Überraschungen und Klischees

21.09.2010 | Stand 03.12.2020, 3:39 Uhr

München (DK) Positionen von über 60 Schweizer Künstlern sind derzeit in der Münchner Kunsthalle der Hypo-Kunsthalle zu sehen. Die 150 Exponate stammen aus dem Kunstmuseum Bern und bedienen manche Klischee-Vorstellung, sorgen aber auch für Überraschungen.

Wer die Schweiz nur von der Durchreise kennt, der hat zumindest die weiten Panoramabilder der Landschaft vor Augen, die stets von einer Bergkette begrenzt werden. Begrenzt war in diesem Land auch die Arbeit der Künstler, denn sie hatten keine Akademien im Land und mussten bis in die 1960er Jahre zur Ausbildung ins Ausland, und erst wenn in der Ferne der Ruhm wuchs, gab es auch eine Chance in der Heimat. Möglicherweise hat dies auch die Sicht der Künstler auf das "Ländle" geprägt: Oft spitzt eine feine Ironie oder ein herber Humor aus den Werken hervor.

Jean Tinguely erfand aus Abfall-Material und kleinen Motoren jene Skulpturen, die sich so präzise drehen wie eine Schweizer Uhr – nur dass sie völlig nutzlos sind. Paul Klee hat das Verspielte auf die Fläche projiziert und sagt von seinen aus der Kindheit entlehnten Figuren, sie seien "diesseitig gar nicht fassbar". Und Dieter Roth formte aus Mist einen Osterhasen, der nicht nur an Schweizer Schokolade, sondern auch an die primären Geschlechtsmerkmale eines Mannes erinnert. Mit diesem provokanten Exponat endet der Blick in die Gegenwart.

Sechs Jahrhunderte zuvor hat ein unbekannter Meister auf Holztafeln gemalt, wie ein Küster nachts eine Messe beobachtet, die Tote rund um einen Sarg feiern. Das gruselige Szenario auf dem Allerseelenaltar bezeugt eine Abgründigkeit, die man der Schweiz mit ihrem biederen Image nicht unbedingt zutraut. Das Werk überlebte den Bildersturm von 1528 – seitdem gab es keinen Markt mehr für religiöse Themen. Im 19. Jahrhundert malte der heutzutage unbekannte Karl Stauffer-Bern einen Gekreuzigten – allerdings als blonden Schweizer und als naturalistische Körperstudie.

Die Reformation sorgte dafür, dass vor allem das Bürgertum den Künstlern Modell stand, aber auch Stillleben waren im 17. Jahrhundert beliebt. Albrecht Kauw hat dafür die Fischleiber parallel nach Größen sortiert, damit alles seine Ordnung hat. Das große Thema der Maler aber war die Landschaft – mal als pathetisches Heimatbild wie der unbezwingbare "Grosse Eiger" von Alexandre Calane oder als romantisches Mondscheinbild von Franz Niklaus König, der seine Aquarelle auf transparentes Papier malte und sie hinterleuchtete – eine geniale Erfindung, die ihm ein Auskommen sicherte.

Der Bruch mit dieser Postkarten-Idylle kam um 1900, als Arnold Böcklin die Femme fatale ins Licht rückte und Ferdinand Hodler symbolistische Bilder der Seele entwarf. Ihm ist der große Saal der Ausstellung gewidmet, der wie in helles Licht getaucht erscheint durch Hodlers Palette an Türkis- und Blautönen sowie durch das vielfach abgestufte Weiß seiner Bilder. Hauptwerke wie "Die Nacht", "Der Tag", "Der Holzfäller" und "Eurythmie" mit den fünf weiß gekleideten alten Männern lassen sich nun neben seinen Landschaftsbildern bewundern und studieren.

Dritter Zugname der Ausstellung neben Hodler und Klee ist Alberto Giacometti mit seiner "Frau aus Venedig". Überraschender aber ist die Entdeckung seines Vaters Giovanni als Post-Impressionist sowie von dessen Cousin Augusto, der mit einem abstrahierten, getupften Regenbogen von 1916 vertreten ist. Natürlich dürfen aus der Moderne auch Johannes Itten, Félix Vallotton, Le Corbusier, Daniel Spoerri, Sophie Taeuber-Arp, Meret Oppenheim und der schizophrene Außenseiter Adolf Wölfli nicht fehlen. Ein Schweizer Kunst-Kosmos, der sich hier präsentiert und der bewusst macht, dass gerade im 20. Jahrhundert Schweizer Künstler ganz eigenwillige Antworten fanden auf die Frage, wie die Welt zu sehen und zu interpretieren sei.