Hettenshausen
Über "Porträts verlorener Gebäude" zum Lehrstuhl

Neu-Hettenshausener Gottfried Müller sieht sich in der Tradition von Wilhelm Busch und Christian Morgenstern

08.01.2015 | Stand 02.12.2020, 21:47 Uhr

In seinem Atelier in Hettenshausen malt Gottfried Müller wie schon in Kindertagen wieder „exzessiv“. Die Brennerei R. ist ein Beispiel aus der Reihe „Schwermut und Abenteuer des Hausbaus / Porträts verlorener Gebäude“, mit der Müller 2001 begann und mit der er sich viel Anerkennung erworben hat - Fotos: Frye-Weber

Hettenshausen (PK) „Seit meinem dritten Lebensjahr zeichne ich exzessiv“, erinnert sich Gottfried Müller. In der Kinder- und Jugendzeit hat der 46-jährige „Neu-Hettenshausener“ an den unterschiedlichsten und vielfältigsten Mal- und Zeichenwettbewerben in seiner oberschwäbischen Heimat, auf Landes-, Bundes- und sogar europäischer Ebene teilgenommen – und bis auf einen auch alle gewonnen. Bestärkt durch so viel Anerkennung stand das Zeichenstudium an der Kunstakademie in München nie infrage.

Sicherheitshalber legte Gottfried Müller 1998 dennoch in einer Woche gleich zwei Prüfungen ab: So hielt er sowohl sein Diplom als auch den Taxiführerschein in Händen. Derart gestärkt versuchte er sein Glück als freischaffender Künstler und Illustrator. Heute ist er Universitätsprofessor für Architekturdarstellung an der TU Dortmund, wohin er für drei Tage in der Woche pendelt. Niedergelassen hat sich Gottfried Müller mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter in Hettenshausen, wo er immer noch „exzessiv“ zeichnet. Zu sehen sind seine jüngsten Werke noch bis zum 20. Januar bei Literatur Moths in München.

„Wenn man gut zeichnen kann, kann man natürlich die unterschiedlichsten Berufe ergreifen. Man kann beispielsweise Grafikdesigner oder Architekt werden. Doch ich wollte kein reiner Anwendungszeichner sondern Künstler werden“, bekräftigt Gottfried Müller. In dem Bewusstsein, dass das Leben als freischaffender Künstler zuweilen ein hartes Brot ist, schien der Zusatzjob als Taxifahrer nicht zuletzt wegen der freien Zeiteinteilung geradezu optimal zu sein. Doch schnell füllte sich das Auftragsbuch von Gottfried Müller und er arbeitete als Grafiker und Illustrator für die FAZ, den Prestel-Verlag oder den Focus. So illustrierte er von 2001 bis 2012 wöchentlich die Weinkolumne eines britischen Sommeliers in der FAZ Sonntagszeitung.

Daneben bildeten Storyboards (so werden Comiczeichnungen genannt, auf deren Grundlage die Clips gedreht werden) für Werbeagenturen, Illustrationen von Kinder- oder Architekturbüchern und Skizzen und Landkarten im historischen Stil den Schwerpunkt seiner Arbeit.

Ein weiteres Standbein waren Medizinzeichnungen für Operationsatlanten zur besseren Anschauung für Ärzte und Medizinstudenten. Zielgerichtet hat er nebenher seine eigenen Projekte als Künstler verfolgt.

„Schwermut und Abenteuer des Hausbaus / Porträts verlorener Gebäude“, heißt die Reihe, mit der Gottfried Müller 2001 begann und die nach eigenen Angaben „mit Abstand das Erfolgreichste war“, was er je gemacht hat. Wie eine naturalistische Zeichnung aus dem 19 Jahrhundert kommen diese Häuser und ihre geheimnisvolle Umgebung daher und wecken die Neugier auf die vermeintlich erklärenden, den Zeichnungen angehängten, Texte.

Zwar sind beide Elemente akribisch aufeinander abgestimmt, ergeben auch nur zusammen ein Ganzes, lüften aber de facto keine Geheimnisse und überlassen das Gesamtbild doch nur der Fantasie des Betrachters. „Das eigentliche passiert im Betrachter“, erläutert Gottfried Müller das Besondere dieser Werke.

„Das ist sofort zum Selbstläufer geworden“, ist die Verwunderung des Künstlers über diesen sensationellen Erfolg noch zu hören. Auch 13 Jahre nach Beginn der Reihe, die inzwischen 24 Porträts verlorener Gebäude umfasst, klingelt immer noch das Telefon und es gibt Ausstellungsanfragen. So waren die Zeichnungen 2006 in der Pinakothek der Moderne zu sehen, 2010 „bespielten“ sie auf der Architekturbiennale in Venedig einen eigenen Raum und 2012 konnten die Werke in der Eremitage in St. Petersburg bewundert werden.

Offenbar hat diese eigenwillige Kombination aus Zeichnung und Text auch das Interesse an der TU Dortmund geweckt. So wurde Gottfried Müller 2008 von Universität eingeladen, einen Vortrag über seine Arbeit zu halten. Der Kontakt vertiefte sich und ein Professor machte den Künstler auf eine freie Professorenstelle aufmerksam und riet ihm, sich zu bewerben. So ist Gottfried Müller nun seit 2010 Professor an der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen ohne auch nur ein Semester dieses Fach studiert zu haben.

„Vor zehn Jahren wäre ein solcher Schritt wahrscheinlich schwieriger gewesen“, erläutert Müller, dass das „Zeichnen“ derzeit eine kleine Renaissance erlebt. „Nicht insoweit als dass es die Digitalisierung wieder verdrängen könnte, aber es hat sich herausgestellt, dass sich bestimmte Dinge nur per Handzeichnung erlernen lassen“, nennt er vor allem das Gefühl für Perspektive, Maßstäblichkeit oder die Erkenntnis räumlicher Zusammenhänge.

„Für mich war es eine große Entdeckung, dass mir das Lehren so viel Freude bereitet und wirklich liegt“, vermutet er, dass er diese Begabung von seinem Vater, einem Geschichts-, Deutsch- und Französischlehrer geerbt hat.

Besonders schätzt er dabei den regen Austausch mit den Studenten, Mitarbeitern und Kollegen, der im starken Kontrast zu der einsamen Tätigkeit als freischaffender Künstler steht. Musste wegen der Einarbeitung in die neue Tätigkeit zunächst die Kunst etwas hintenan stehen, genießt es Müller nun umso mehr, künstlerisch tätig sein zu können, ohne den Druck zu haben, etwas verkaufen zu müssen. Überdies ist er sich seiner Sonderstellung im Kunstbetrieb sehr bewusst. „Meine Kunst kann man nicht so ohne Weiteres einordnen“, sieht sich Müller mit seinen Zeichnung und seinem Humor gepaart mit den literarischen Ausflügen in der Tradition eines Wilhelm Busch oder Christian Morgenstern.

Nach seinem Umzug nach Hettenshausen suchte Müller sofort den Kontakt zum Neuen Pfaffenhofener Kunstverein. Seine eigene künstlerische Tätigkeit hielt er dabei zunächst bewusst zurück. „Ich wollte den Eindruck vermeiden, nur meine eigenen Sachen darstellen zu wollen“, erläutert er, dass er im Verein Gleichgesinnte gesucht und auf Anhieb gefunden hat. Inzwischen hat er im Vorstand den Posten als Technischer Leiter übernommen. „Doch nicht nur im Kunstverein, überall sind wir hier total nett und offen aufgenommen worden“, nennt Gottfried Müller beispielhaft die „auffallend“ netten Nachbarn und anderen Eltern der Kindergartenfreunde von Tochter Katharina.

So haben Gottfried Müller und seine Frau Irene Schretzlmeier die Entscheidung, der Stadt den Rücken zu kehren und sich in Hettenshausen niederzulassen nie bereut. Irene Schretzlmeier pendelt mit dem Zug nach München, wo sie als Landschaftsarchitektin bei der Landeshauptstadt im Naturschutz arbeitet. Da Gottfried Müller in seiner Kindheit oft umgezogen ist, war es ihm besonders wichtig, für sich und seine Familie einen Ort zu finden, wo sie sich dauerhaft niederlassen können. Die Richtung von München aus gen Norden gab Ehefrau Irene vor, ist sie doch in Schwaig bei Münchsmünster aufgewachsen.