Augsburg
Über die Kraft der Fantasie

Das Theater Augsburg zeigt Astrid Lindgrens "Mio, mein Mio" als opulentes Familienstück

16.11.2018 | Stand 23.09.2023, 4:59 Uhr
Gefangen im schwarzen Turm: Mio (Marlene Hoffmann) und JumJum (Daniel Schmidt) überlegen, wie sie Ritter Kato (Kai Windhövel, oben) besiegen und das "Land Außerhalb" befreien können. −Foto: Fuhr

Augsburg (DK) Bosse?

Hat jemand Bosse gesehen? Als man ihn zuletzt sah, trug er einen farbig gestreiften Pullover und war unterwegs zum Einkaufen. "Es weiß niemand, was mit Bosse passiert ist. Außer mir. Ich bin nämlich Bosse. " So beginnt das Familienstück des Theaters Augsburg. Der rote Vorhang ist einen Spalt breit geöffnet. Gerade so weit, dass Marlene Hoffmann, die den Bosse spielt, zu sehen ist. Rechts und links davon hört man lautes Geschimpfe der Pflegeeltern. Denn Bosse ist ein Waisenkind. Ungeliebt. Vernachlässigt. Kummervoll.

Bis er eines Tages auf wundersame Weise ins "Land der Ferne" gerät, dessen König ihn seit Tausenden von Jahren schon sehnsüchtig erwartet: ihn, seinen Sohn, den Prinzen Mio. In diesem märchenhaften Land wird Mio geliebt, hier hat er einen Freund, ein wildes Wolkenpferd und alle Freiheiten. Aber er steht auch vor einer schwierigen Aufgabe. Denn das "Land Außerhalb" wird vom dunklen Ritter Kato bedroht. Der raubt den Menschen ihr Herz, verwandelt die Kinder in traurige Vögel. Und die Prophezeiung sagt, dass ein mutiger Prinz seine Schreckensherrschaft beenden wird.

1954 erschien Astrid Lindgrens Kinderbuch "Mio, mein Mio". 1956 wurde es mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. 1979 schnupperte es zum ersten Mal Theaterluft. Joachim von Burchard hat das Stück nun auf die Bühne im Augsburger Martini-Park gebracht. Aber "Mio, mein Mio" ist nicht nur ein farbenprächtiges Märchen, in dem ein kleiner Held seine eigenen Ängste besiegen muss, um vielfältige Gefahren zu meistern und gegen das mächtige Böse zu kämpfen, sondern auch eine Geschichte über Sehnsucht nach Geborgenheit und (Selbst-)Vertrauen in der Familie und die Kraft der Freundschaft.

Ein Hingucker ist auf jeden Fall schon mal die Bühne. Denn Jeannine Simons Bühnenhintergrund erinnert mit seinen amorphen Formen an Giorgio de Chiricos illustionistisch-verrätselte Landschaften. Wenn Mio und JumJum auf Miramis durch das Königreich reiten, dann rasen die Bäume mit, dann schlingt sich eine Brücke bis in den Himmel, dann tauchen sie ein in ein Meer aus Nacht und Sternen. Die Videosequenzen (Animation: Ina Weisser, Animationsgrafik: Gerlinde Mayer) bebildern hier nicht einfach die Szenerie im Breitwandformat, sie sind raffinierter Teil des Spiels.

Davor finden sich riesenhafte Früchte, seltsame Blumen, üppige Vegetation, ein Brunnen, der Märchenhaftes flüstert, ein geflügelter Fisch: All das ist im "Land der Ferne" bunt-leuchtend, fantastisch, schillernd, voller Poesie. Nach der Pause, wenn Mio sich aufmacht in Katos Reich, enthüllen all diese Requisiten ihre dunklen Seiten, ist die Erdbeere verfault und wurmstichig, der Tassenbrunnen zersplittert, und der riesige Fisch entpuppt sich als Kommandozentrale des bösen Ritters Kato, dessen schwarz gepanzerte Späher mit ihren Spinnwebflügeln und Rohrköpfen aus der Alptraum-Werkstatt eines Hieronymus Bosch zu entstammen scheinen.

Kühn hat Regisseur Joachim von Burchard diese Video- und Theaterwelten, Bild und Spiel und Musik (Jan Exner) zusammengefügt und führt sein sechsköpfiges Ensemble mit sicherer Hand. Marlene Hoffmann gibt einen zarten Prinzen Mio, der sich vom verzagten Waisenknaben in einen beherzten Helden verwandelt. Daniel Schmidt steht im als Freund JumJum zur Seite. Sebastian Müller-Stahl, Sebastian Baumhart, Natalie Hünig und Kai Windhövel teilen sich die anderen Rollen im Traum- und Alptraumland, sind Katos erbarmungslose Erfüllungsgehilfen, aber auch die trauernden Angehörigen der entführten Kinder, Zauberwesen, Nachtgestalten.

Joachim von Burchard ist eine rasante Inszenierung geglückt, die das konventionelle "Es war einmal"-Erzählen mit modernen Licht- und Videotechniken verbindet, die allzu Gruseliges mit komischen Elementen abmildert, die staunen lässt und darüber hinaus eine Geschichte über Mut und Freundschaft erzählt - und über die Macht der Fantasie.

Weitere Vorstellungen im Augsburger Martini-Park bis 17. Januar 2019, Dauer: 100 Minuten, ab 8 Jahren, Kartentelefon: (0821) 3244900.

Anja Witzke