Tragödie im Skulpturenpark

Münchner Opernfestspiele: Bei Mozarts "Idomeneo" sind die Bühnenobjekte die eigentlichen Stars

20.07.2021 | Stand 23.09.2023, 19:52 Uhr
Liebegeplänkel zwischen Hochständen: Szene aus "Idomeneo" im Prinzregententheater. −Foto: Hösl

München - O Götter!

Was für ein Unglück. Idomeneo, aus dem Trojanischen Krieg zurückkehrender König, gerät mit seinen Schiffen in einen gefährlichen Sturm. Um sich zu retten, verspricht er dem Gott Neptun, den ersten Menschen, dem er an Land begegnet, zu opfern. Und wem begegnet er zuerst? Ausgerechnet seinem Sohn Idamante.

Die tragische Geschichte, die Wolfgang Amadeus Mozart 1781 für das Münchner Cuvilliéstheater komponierte, ist so fesselnd und allgemeingültig, dass sie natürlich überall spielen könnte. Bei den Münchner Opernfestspielen im Prinzregententheater allerdings spielt sie - ja wo eigentlich? In einer Mondlandschaft? In der Bilderwelt von Max Ernst? Auf einem fernen Planeten?

Die Künstlerin Phyllida Barlow und Regisseur Antú Romero Nunes haben vier rätselhafte Objekte von archaischer Wucht für das Bühnenbild entworfen. Sie sind auf den ersten Blick unidentifizierbar, funktionslos: Ein riesiger Monolith, der auf schiefen Stelzen durch den Raum gleitet, ein baumartiger Aussichtsturm, eine Art Rampe aus grobem Holz (ein Wellenbrecher) und Hochsitze aus marodem Industrieschrott. Die Objekte sollen, so steht es im Programmheft, an "die unermessliche Dauer geologischer Zeiträume" gemahnen, an die "Ursprünge der Menschheit" erinnern, aber auch an eine "beschädigte Vergangenheit".

Die Objekte stehen suggestiv in der Gegend herum. Sie sind Klettergerüst und Aussichtsturm, sie werden geputzt und geschoben und vor allem sind sie unfassbar dekorativ. Und sie haben den Vorteil, dass sie eigentlich nichts darstellen - oder alles. Schiffstrümmer oder königliche Gemächer, Gärten oder Tempel.

In Phyllida Barlows Skulpturengarten allerdings wird fantastisch gesungen und gespielt. Die im Krieg gefangenengenommene Königstochter Ilia ist spürbar in Idamante verliebt - aber der ist eigentlich ihr Feind. Also nähert sie sich ihm mit einem Messer, will ihn erstechen und ist doch dazu nicht fähig, sie kann kaum seinen Kuss abwehren. Später begegnen sich die beiden in den skurrilen Hochständen, die immer enger aneinanderrücken. Die Gegenspielerin Elletra tobt und wütet vor Eifersucht, als die beiden Liebenden sich schließlich doch finden - und wälzt sich dabei in schwarzer Farbe.

Ein Augenblick völliger Entrückung entsteht, als Andreas Skouras auf dem Hammerklavier die d-Moll-Fantasie von Mozart erklingen lässt und eine Tänzerin dabei einen Tanz voller bizarrer, wahnsinniger Bewegungen beginnt (Choreografie: Dustin Klein). Währenddessen scheint sich Idamante von einem Turm zu stürzen. Ein Moment von solcher Intensität, dass es dem Publikum den Atem verschlägt.

Aber spannender noch als die Inszenierung ist die Musik. Constantinos Carydis lässt Mozarts Gewitterstürme und Monsterangriffe donnern und toben, die Pauke macht Radau wie sonst kaum je vernommen. Carydis' Orchesterwüten erinnert manchmal schon an Verdi und dem Verismo, besonders wenn sich zu Mozarts Musik noch Geräusche und Flüstern aus dem Lautsprecher mischen. Packend geraten in der historisch informierten Gangart auch die Accompagnato-Rezitative. Für die Secco-Rezitative bietet Carydis gleich drei Tasteninstrumente auf (Cembalo, Harmonium und Hammerflügel) sowie weitere barocke Zupfinstrumente. Eine Arie des Idamante lässt er statt von einer Violine vom Flügel begleiten, was fast klingt wie eine Klaviersonate mit obligater Sängerstimme. Aber auch die zarten Töne gehen unter die Haut. Der Opernchor zeigt sich zudem in Bestform.

Unter den Sängern macht besonders Emily d'Angelo mit ihrem sonoren und wendigen Mezzo als Idamante eine hervorragende Figur. Olga Kulchynska (Ilia) verfügt über einen glockenreinen Sopran, charaktervoller singt Hanna-Elisabeth Müller (Elletra). Herausragend aber ist Matthew Polenzani als Idomeneo. Der ständig den Machtverlust fürchtende Herrscher lässt seinen Tenor in allen Farben schillern, singt zuweilen anrührend zart und lässt die Töne beben. Erschütternd. In ihm kulminiert mehr als in jeder anderen Figur die Tragödie - bis er schließlich seinen königlichen Mantel an seinen Sohn weitergibt. Endlich ist Zeit, den ganzen Stress hinter sich zu lassen - bei Sandwich und Dosenbier. O Götter!

DK

ZUR PRODUKTION

Theater:

Prinzregententheater
München

Regie:

Antú Romero Nunes

Dirigat:

Constantinos Carydis
Choreografie:
Dustin Klein

Nächste Vorstellung:

22., 24. Juli (Live-Übertragung auf staatsoper. tv)

Kartentelefon:

(089) 21 85 1025.

Jesko Schulze-Reimpell