"Träume haben viel mit der Realität zu tun"

Psychatrie-Chefarzt Thomas Pollmächer erklärt, wie die Corona-Krise unser Traumverhalten beeinflusst

10.06.2020 | Stand 02.12.2020, 11:12 Uhr
Aus einem unruhigen Schlaf erwacht: Viele Menschen bemerken in der Corona-Krise Änderungen in ihrem Schlafverhalten. −Foto: Klose, dpa/Klinikum Ingolstadt

Ingolstadt - Eine Pandemie, die die Welt in helle Aufregung versetzt.

 

Geisterartige Zustände an öffentlichen Plätzen und Angst um die Liebsten - das Coronavirus selbst liefert bereits Material für zahlreiche Albträume. Doch was macht eine Krise wirklich mit unserem Schlaf- und insbesondere Traumverhalten? Thomas Pollmächer (kl. Foto), Direktor des schlafmedizinischen Zentrums im Klinikum Ingolstadt, beantwortet Fragen rund um unseren Schlaf.

Herr Pollmächer, viele Menschen berichten - vor allem im Internet -, dass sie seit der Corona-Pandemie verwirrender träumen. Doch was ist dran an diesem Phänomen?
Thomas Pollmächer: Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass Menschen im Schnitt derzeit mehr träumen als normalerweise. Das liegt daran, dass in einer neuen, außergewöhnlichen Situation wie der jetzigen die Menschen unruhiger schlafen als sonst und vermehrt aufwachen. Und nur, wenn wir während des Träumens aufwachen, können wir uns auch an Träume erinnern. Wenn tatsächlich die Träume derzeit verwirrender sind als sonst, dann wohl, weil die Zeiten verwirrend sind - und Träume haben immer viel mit der tatsächlichen Realität zu tun.

Warum können wir uns derzeit besser an unsere Träume erinnern?
Pollmächer: Man kann sich ohnehin an Träume nur erinnern, wenn man während des Träumens aufwacht. Und natürlich erinnert man sich besser an Träume, die neu und aufregend sind, egal ob im Positiven oder Negativen.

Welche Faktoren beeinflussen unseren Schlaf und unsere Träume, besonders während Corona?
Pollmächer: Den Schlaf beeinflussen unheimlich viele Faktoren, aktuell sind es sicher vor allem die Sorgen und Ängste, die doch viele mit der Krise verbinden. Die machen den Schlaf unruhiger, erschweren das Einschlafen und führen zu häufigerem Aufwachen - aber natürlich nur bei einem Teil der Menschen. Träume werden tatsächlich von beidem beeinflusst, von unseren "alten" Erfahrungen und Gedächtnisinhalten - deswegen kommen manche Träume immer wieder. Und von dem, was aktuell passiert, das hat sogar den größeren Einfluss.

Welche Auswirkungen hat unser Träumen auf unsere Psyche - oder ist es etwa andersrum?
Pollmächer: Nun, genau genommen sind ja die Träume ein Teil unserer Psyche, insofern macht es wenig Sinn über Auswirkungen des einen auf das andere zu sprechen. Träume sind so etwas wie unser "Schlafbewusstsein" und hängen deswegen mit dem "Wachbewusstsein" eng zusammen. Gerade bei Menschen, die wenig Zeit zum Nachdenken haben oder fürs Nachdenken verwenden, spiegeln Träume oft besser wider, was diese Menschen bewegt oder besorgt, als das, womit sie sich im Wachen gedanklich beschäftigen. Dabei ist der Traumzustand - den wir ja jede Nacht mehrfach durchlaufen, selbst, wenn wir uns nicht an Träume erinnern - extrem wichtig für die Funktion des Gehirns, denn er hilft einerseits am Tag Gelerntes ins Langzeitgedächtnis zu überführen und wohl auch Unwichtiges wieder zu vergessen.

Siegmund Freud prägte den Begriff der Traumdeutung - hilft uns diese weiter, wenn wir wirre Träume verstehen möchten?
Pollmächer: Siegmund Freud war der Ansicht, dass Träume es uns ermöglichen, das Unbewusste zu ergründen, deshalb war ihm die Deutung der Träume so wichtig. Allerdings ist dieser sehr fantasievolle Psychiater und Neurologe dabei sehr weit gegangen und viele seiner Ideen zur Bedeutung der Träume für seelische Gesundheit und seelisches Leid haben sich später nicht bestätigen lassen. Die meisten Forscher halten es heute für ziemlich unwahrscheinlich, dass Träume die tiefgreifende Bedeutung haben, die Freud ihnen zuschrieb.

Viele Nutzer im Netz schreiben von ihren Albträumen. Doch wie entstehen Albträume?
Pollmächer: Es gibt angenehme und unangenehme Träume; die sehr unangenehmen heißen Albträume. Und oft ist nicht nur der Inhalt unangenehm, sondern die Menschen wachen aus Albträumen oft nervös und unruhig, manchmal auch voller Angst und mit Herzklopfen auf. Grundsätzlich entstehen die Albträume genauso wie angenehme Träume, aber sie werden eben häufiger in unruhigen Zeiten und sie haften besser im Gedächtnis als "normale" Träume.

Steigt während Corona die Zahl der Betroffenen, die an Schlafstörungen leiden?
Pollmächer: Dazu gibt es bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen. Aber ja, es ist sehr wahrscheinlich, dass in Zeiten, in denen Menschen Sorgen und Ängste haben, der Schlaf insgesamt schlechter wird.

 

Welche Tipps haben Sie für einen ruhigeren Schlaf?
Pollmächer: Natürlich hängen Tipps für einen ruhigen Schlaf davon ab, woher der unruhige Schlaf kommt. Aktuell wird man seinen Schlaf am besten fördern, indem man sich möglichst nur dosiert den vielen, zum Teil ja beunruhigenden Informationen aussetzt, die einen heute fast minütlich über das Internet erreichen. Und natürlich auch dadurch, dass man versucht, im Hier und Jetzt zu bleiben statt an Schwierigkeiten zu denken, von denen man noch gar nicht weiß, ob sie tatsächlich auftreten.

Kann man etwas gegen Albträume tun?
Pollmächer: Ganz speziell gegen wiederkehrende Albträume kann man tatsächlich etwas machen: Man kann sie entschärfen, indem man sich im Wachen überlegt, wie der Traum weniger bedrohlich ablaufen könnte. Falls man zum Beispiel immer wieder träumt, dass man von jemandem heftig bedroht und angegriffen wird, dann kann es helfen, sich im Wachen intensiv vorzustellen, dass im Traum zusätzlich jemand erscheint, der den Angreifer abwehrt, der einen also vor ihm schützt. Das klingt ein bisschen verrückt und funktioniert natürlich nicht immer sofort und nicht bei jedem, aber es gibt tatsächlich wissenschaftliche Studien, die belegen, dass das funktioniert, sogar bei Kindern.

DK

Das Gespräch führte Anna Hausmann

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ZUR PERSON:
Thomas Pollmächer ist Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit im Klinikum Ingolstadt und leitet zudem das schlafmedizinische Zentrum des Klinikums. Pollmächers Spezialgebiete sind allgemeine Schlafstörungen, Schlafstörungen bei psychiatrischen Erkrankungen sowie Narkolepsie.