Ingolstadt
Toccaten-Furor

Thierry Escaich bei den Ingolstädter Orgeltagen

12.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:19 Uhr

Ingolstadt (DK) Für Bachs Werke steht seit diesem Jahr ein hervorragendes Instrument im Ingolstädter Münster: die vom Dresdner Orgelbauer Kristian Wegscheider gestaltete Chororgel - sie trägt übrigens auch den Beinamen "Bachorgel".

Aber: Der Pariser Organist und Komponist Thierry Escaich entschied sich beim zu Beginn interpretierten Bach bei seinem Konzert im Rahmen der Orgeltage nicht für dieses Instrument, sondern für die eher modern ausgerichtete Hauptorgel der Kirche.

Warum? Offenbar wollte Escaich die verschiedenen Werke des Abends stilistisch und klanglich enger zusammenrücken. Vielleicht beabsichtigte er Brücken zu bauen zwischen Bach, Mendelssohn und seinen eigenen Werken. Und tatsächlich gelang dem bedeutenden Organisten ein Abend voller stilistischer Spiegelungen, Engführungen und Maskeraden.

Am Anfang stand Bachs Toccata d-Moll BWV 538. Ein mächtiges Werk, das Escaich mit einem gewissen romantischen Pathos versah. Fast so, als wenn es sich um ein Werk von Mendelssohn handelte - dessen Sonate in f-Moll er tatsächlich als Nächstes anging. Mit der Sonatenform hat das Stück kaum etwas zu tun. Eher viel mit Bachs Musik. Im ersten Satz baut Mendelssohn in einen toccatahaften Zusammenhang voller wilder Chromatik einen geisterhaft aufscheinenden Choral ein. Der zweite Satz wirkt andächtig schwebend, der dritte ist eine Art Rezitativ mit zerbrechlicher Melodik, der vierte ein typischer Mendelssohn-Schlusssatz, überschwänglich, rauschhaft getrieben. Thierry Escaich spielte das mit einer Intensität, als hätte er es selbst komponiert. Und tatsächlich: Das folgende von ihm selbst komponierte Stück "Fantaisie Choral et fugue, improvisiert im romantischen Stil über einen gegebenen Choral" klingt fast wie der Frühromantiker. Aber ein übertriebener Mendelssohn. Besonders im Schlussteil ist alles noch etwas lauter und hektischer, es gibt noch mehr gebrochene Dreiklänge, noch mehr Sequenzen. Escaich ist dennoch ein Stück gelungen, das auf Anhieb Spaß macht, das mitreißt. Und der französische Organist zeigte sich hier als kraftvoller Künstler, extrovertiert, hingerissen von den symphonischen Qualitäten seines Instruments.

Auch Louis Vierne und Jehan Alain verlassen keineswegs das System der Tonalität, allerdings ist die Romantik mit ihrem Gefühlsüberschwang nicht mehr ihr stilistisches Koordinatensystem. Viernes "Prélude" klingt ein wenig nach Drehorgel, das "Scherzetto" geistreich gewitzt. Die Stücke passen zu Thierry Escaichs eigenen Werken, den "Trois Exquisses". Der Franzose liebt die Kontraste. Gleich zu Beginn in "Rituel" agieren fast unabhängig voneinander extrem hohe und tiefe Tonfolgen. Rauschende Akkorde treten gregorianischem einstimmigem Melos gegenüber. Auch "Variation sur un souvenir" wirkt antithetisch. Aber hier ist das ganze Stück scheinbar ein Dokument innerer Zerrissenheit. Motive werden skizziert, brechen ab, werden scheinbar durch andere zerstört, bis alle musikalischen Gedanken durch einen wilden Ausbruch hinweggerissen werden.

Am Ende zeigte Escaich als Improvisator, dass er die stilistischen Elemente des Abends in einem gewaltigen Parforceritt vereinen kann: die Anklänge an Bachs Polyfonie, die milde aufscheinenden Choräle, das Spiel mit den starken Kontrasten, der drängende Toccaten-Furor am Ende.