Ingolstadt
"Theater darf auch mal wehtun"

28.09.2021 | Stand 07.10.2021, 3:33 Uhr
Die Zeiten sind hart, aber Jedermann feiert: Matthias Zajgier in der Titelrolle. −Foto: Stadttheater

"Jedermann (stirbt)" ist die erste Premiere der Ingolstädter Spielzeit im Großen Haus. Ferdinand Schmalz hat das Spiel vom Sterben des reichen Mannes für das 21. Jahrhundert über-, fort- und neugeschrieben. Er spitzt die Dramaturgie des Originals zu und schärft die Konflikte. Premiere ist am 2. Oktober. In der Titelrolle ist Matthias Zajgier zu sehen.

Herr Zajgier, es geht wieder los: Theater live und drinnen. Wie fühlt sich das an?
Matthias Zajgier: Bis jetzt fühlt man noch keinen großen Unterschied, weil wir noch kein Publikum hatten. Proben im Theater fanden ja zum Teil auch während des Lockdowns statt. Aber ich glaube, meine letzte richtige Vorstellung im Großen Haus war tatsächlich im Oktober 2020 - in "(R)Evolution". Neu ist, dass wir auf der Bühne keine Abstandsregeln mehr beachten müssen.

Abgesehen von der Sommerbühne konnten Sie lange nicht spielen. Blicken Sie auf ein verlorenes Jahr zurück?
Zajgier: Verloren würde ich es nicht nennen. Man musste umdenken. Die Sparte X ist entstanden. Es hat großen Spaß gemacht, neue Formate für die Sommerbühne zu entwickeln. Aber ich merke, dass mein Jahresrhythmus durcheinandergeraten ist. Obwohl wir sechs Wochen Urlaub hatten, ist es gerade sehr anstrengend. Auch wenn wir nicht vor Publikum gespielt haben, war das Jahr zuvor definitiv keine Erholungsphase.

Jeder kennt den "Jedermann" - wenn auch vermutlich in der Fassung von Hugo von Hofmannsthal. Haben Sie die Rolle schon mal gespielt?

Zajgier: Den Jedermann nicht, aber den Mammon - als Jugendlicher bei den Burgspielen Parsberg. Mit ein paar Freuden bin ich dann nach Salzburg gefahren, um dort den "Jedermann" zu gucken. Dreimal haben wir uns um Stehplatzkarten bemüht. Morgens um neun stellt man sich an, nachmittags um fünf werden die Karten ausgegeben. Zweimal hat's leider geregnet. Bei Regen wird das Stück ins Festspielhaus verlegt und da gibt's keine Stehplätze. Aber beim dritten Mal hat's geklappt.

Wünscht man sich so eine Rolle?
Zajgier: Mir geht es gar nicht um bestimmte Rollen wie den Romeo oder den Hamlet oder so. Aber ich habe mich sehr gefreut über den Jedermann. Gleichzeitig denkt man dann: Ich habe ja schon mehrere große Rollen gespielt. Hoffentlich mache ich nicht das Gleiche wie bei Kreon oder bei Beckmann. Wie kitzle ich das Besondere aus jeder Figur heraus?

Der reiche Jedermann ist bei Ferdinand Schmalz ein knall-harter Kapitalist von heute. Haben Sie an reale Personen gedacht bei der Entwicklung der Figur?
Zajgier: Die Fabel bleibt gleich. Ferdinand Schmalz hat sie schon irgendwie ins Heute geholt - und doch wieder nicht. Durch die Kunstsprache bleibt das Parabelhafte. Der Jedermann wird nicht naturalistisch gespielt. Insofern hatte ich keine Vorbilder - das ist kein Bezos oder Gates. Es geht nicht um realitätsnahe Szenen, wo Konkretes verhandelt wird. Es ist sehr konzentriert. Was auch schwierig ist: Man hat nicht viel Zeit, um Sachen zu verhandeln.

Was für ein Typ Geschäftsmann sind Sie? Tragen Sie Anzug? Eigentlich gibt Jedermann ja eine Gartenparty.
Zajgier: Kein Anzug, keine Büromöbel. Wir befinden uns eher in einer Art Albtraum. Es ist sehr spooky. In den Kostümen viel schwarz-weiß. Oder besser: farblos. Auch das Licht setzt auf Hell-dunkel-Kontraste. Alles ist sehr reduziert. Der heutige Bezug kommt eher durch die Sprache und den Text.

Beschreiben Sie Ihren Jedermann.
Zajgier: Wenn man das Stück liest, denkt man sofort: So ein Arschloch. Aber mich interessiert bei solchen Figuren, warum ist er so? Wie erreicht man beim Publikum Verständnis für ihn? Auch bei Kreon ging es mir darum, sein Handeln nachvollziehbar zu machen. Mein Ansatz ist immer zu zeigen: Wie wird man so? Vielleicht kann man gar nicht anders handeln, wenn man so weit oben steht. Weil man die Bodenhaftung schon verloren hat. Spannend sind die Brüche in der Figur.

Ferdinand Schmalz hat den Jedermann ins Heute geholt. Trotzdem verwendet auch er eine Kunstsprache, mehr Partitur denn Text. Kriegt man die schwer über die Lippen?

Zajgier: Seltsamerweise lernt sich der Text recht einfach, weil er eine ganz tolle Melodie hat, einen starken Rhythmus. Manchmal stolpert man über gewisse Stellen und merkt dann, das wurde bewusst geschrieben, um den Rhythmus zu brechen. Ich mag das. Man muss immer scharf sein im Denken. Man hat keine Zeit, mal was wegzuplänkeln. Jeder Satz muss sitzen. Es kommt auf jedes Komma, jeden Punkt an. Das ist auch anstrengend.
Was ist denn die größte Herausforderung?
Zajgier: Eigentlich muss man wenig machen, weil die Sprache schon so viel trägt. Beim ersten Probieren bewegt man sich viel, dann merkt man, das ist zu viel. Das Stück ist relativ formell. Wie Sie sagen, es ist wie eine Partitur geschrieben. Es funktioniert wie ein Räderwerk. Zug um Zug. Man reagiert auf die Bewegung des anderen. Das ist eine Herausforderung. Sich zu bremsen. Und es ist ein Kraftakt. Auch für die Stimme. Wir spielen 100 Minuten ohne Pause - und ich bin in jeder Szene drin.

Wie sieht denn die Bühne aus?
Zajgier: Ein großes Prospekt einer bayerischen Berglandschaft und 180 Plastikstühle.

Mit Regisseur Servé Hermans haben Sie schon bei "(R)Evolution" zusammengearbeitet. Was schätzen Sie an ihm und an seiner Arbeit?
Zajgier: Die Arbeit gestaltet sich schon dadurch anders, dass er mit Ludo Costongs einen eigenen Dramaturgen mitbringt, der auf jeder Probe dabei ist. Während Ludo eher nach den Motiven der Figuren fragt, arrangiert Servé die Bilder. Große Bilder, in denen man sich bewegen kann. Eigentlich ist es spannend, dass der Regisseur auch Bühnenbildner ist. Dadurch wird alles unmittelbarer. Grundsätzlich lässt Servé einem sehr viel Freiheit. Teamarbeit wird großgeschrieben. Aber je größer das Team, desto schwieriger wird es natürlich. Bei "(R)Evolution" waren wir fünf Schauspieler, im "Jedermann" sind wir elf.

Was erzählt uns das Stück über die Gegenwart?
Zajgier: Es geht viel um Tod. Denn natürlich war das im vergangenen Jahr ein großes Thema. Bei Hofmannsthal gibt es die große Erlösung. Das gibt es hier nicht. Es ist ein böses Stück. Es endet kalt. Schmalz löst es nicht in Gefälligkeit auf. Das mag ich: Theater darf auch mal wehtun. Überhaupt ist es sehr spannend, wie Schmalz den Hofmannsthal weiterentwickelt hat, wie er Zitate verwendet. Die große Rede von Gott kommt vor, aber in anderem Zusammenhang. Das Glockengeläut wird hier zum Uhrticken. Die berühmten Jedermann-Rufe sind drin. Aber alles anders.

Gibt es einen zentralen Satz?
Zajgier: Ein Kernsatz für meine Figur ist bestimmt: "Wir sind nur, was wir schaffen." Aber einer meiner Lieblingssätze des Stücks ist: "Glück ist eine Illusion, erfunden um Pauschalurlaube zu verkaufen."

Warum steht der "Jedermann" am Anfang der Spielzeit?

Zajgier: Es ist ein großes Ensemblestück. Und es ist sehr theatral im positiven Sinn: große Bilder, eine große Sprache, ein Spektakel! Leute, die ausgehungert sind nach Theater, werden ihre Freude daran haben.

DK

Die Fragen stellte Anja Witzke

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