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Stadtgeflüster vom 6. Juli 2016

05.07.2016 | Stand 02.12.2020, 19:35 Uhr

(rh) Die Musikgeschichte kennt nicht wenige Anekdoten über berühmte Sänger und Dirigenten, die ihre Konzertpause eigenmächtig verlängerten, wenn in der Garderobe der Fernseher lief und die eigene Fußball-Nationalelf gerade vor dem Elfmeterschießen stand. Solange Maradona und Zidane auf dem Rasen zauberten, hatte Beethoven das Nachsehen.

Und je nach Ausgang des Spiels konnte die anschließende Interpretation der Schicksalssinfonie doch recht ruppig ausfallen.

Auch als reisender Opernbesucher ist man gut beraten, wenn man die Risiken und Nebenwirkungen großer Fußballturniere stets im Auge behält. Die Zeit wird kommen, in der die Zwischenstände der Deutschlandspiele während der Vorstellung per digitalem Laufband auf der Bühne eingeblendet werden. Dann singt Aida ihre Arie "Als Sieger kehre heim!" ("Ritorna vincitor"), und das Publikum erfährt brandaktuell: "Özil verwandelt Foulelfmeter in der 89. Minute zum 2:0."

Schon die bisherigen einschlägigen Erfahrungen des Autors geben Anlass zu den schlimmsten Befürchtungen. Als Deutschland am 19. Juni 2008 bei der EM auf Portugal traf, liefen überall im Foyer des Leipziger Opernhauses die Fernseher. Selbst die Garderobenfrauen waren kaum ansprechbar. Das war der musikalischen Hochstimmung - gegeben wurde eine getanzte Version von Bach-Werken - doch recht abträglich. 2014 musste Deutschland auf dem Weg zur Weltmeisterschaft in Brasilien am 4. Juli gegen Frankreich antreten, während gleichzeitig die Bayerische Staatsoper eine Festspielaufführung von Verdis "La Traviata" angesetzt hatte. In der Pause verbreiteten die Smartphoneträger eilig die Nachricht vom Kopfballtor des Mats Hummels. Dass wenig später die Starsopranistin Diana Damrau qualvoll an Schwindsucht sterben würde, erschien unter diesen Umständen etwas weniger tragisch. Man muss ja schon froh sein, wenn bei der nächsten WM 2018 das Konzertpublikum nicht gemeinsam zu singen anfängt: "So ein Tag, so wunderschön wie heute!"