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Sozialduselei

23.06.2014 | Stand 02.12.2020, 22:33 Uhr

Zum Thema verkaufsoffene Sonntage in Ingolstadt:

Nur die Kirchen haben zurzeit in Ingolstadt neben den Notdiensten das Privileg, an Sonn- und Feiertagen zu arbeiten. Eine recht einseitige Angelegenheit, ist doch nicht jeder so fromm, das zu schätzen, wie man weiß. Im säkularen Frankreich, von dem wir krampfhaft versuchen, ein wenig Lebenskunst zu lernen, ist das anders. Man lässt sich da nicht vom Anspruch auf das Unterhaltungsmonopol der Kirchen lähmen.

Auch die Sozialduselei mancher Lobbyisten ist in diesem Zusammenhang unglaubwürdig in einer Zeit, in der es den Arbeitnehmern erfreulicherweise recht gut geht. Gern erinnere ich mich an die verkaufsoffenen Sonntage vor Weihnachten in den 1960er Jahren. Eine Mischung aus Feiertagsstimmung und Freude am Verkaufen, Kontakt mit den Kunden bei der ganzen, gut gelaunten Mannschaft. Diese war damals trotz 48-Stunden-Woche klug genug, sich aus Überzeugung mit dem Betrieb zu identifizieren.

„Wir haben einen Auftrag, das Kulturgut des Sonntags zu erhalten und zu schützen. Der Sonntag ist für viele Menschen ein gemeinsamer freier Tag, um sich zu treffen oder etwas zu unternehmen. Wenn der Sonntag zum Werktag wird, dann geht er als gemeinsamer Tag verloren.“ So Dekan Klaus Waldeck. Ist das so?

Wenige Kilometer von Berlin entfernt, im polnischen, erzkatholischen Posen, kann man sonntags aufs Schönste das Nebeneinander von Gottesdienst und Kaufakt beobachten. Manchmal trennt nur ein Parkplatz den Supermarkt, etwa der Kette „Piotr i Pawel“, vom Gotteshaus. Während die einen zur Messe schlendern, eilen die anderen zum Shoppen. Einige versuchen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Voll ist es hier wie da.

Was suchen all die Menschen, die sonntags shoppen gehen? Was treibt sie in die überfüllten Stadtzentren oder die scheußlichen Einkaufs-Galerien? Gewiss nicht in erster Linie die Notwendigkeit, etwas zu besorgen. Keiner wird ja dazu gezwungen. Es geht um das Erlebnis, um den leicht erhöhten Seelenzustand. Man genießt die Menge, die Auswahl, inspiziert ohne die Hetze unter der Woche die Möglichkeiten. Noch der Einkaufsbummel am Sonntag profitiert von der tradierten Heiligung des siebenten Tages. Ein Gemeinschaftserlebnis für die Familie, das keine streitschwangere Langeweile aufkommen lässt. Für manche ist es die Rettung aus der Depression. Die Soziologin Eva Illouz hat ausführlich untersucht, wie stark unsere Konsumkultur vermeintlich geschäftsferne Energien bewirtschaftet, wie sehr sie von romantischen und idealistischen Impulsen lebt. Das ist alles andere als schäbig, sondern auch Kultur.

Nun ja, die Kirchen haben ja auch eine Weile gebraucht, um zuzugeben, dass die Erde keine Scheibe ist. Und die Gewerkschaften brauchen halt ihre Legitimation. Der jetzige Stadtrat mit OB Christian Lösel und einigen neuen, progressiven Mitgliedern wird hoffentlich weniger systematisch an der Ausblutung der Innenstadt arbeiten als der letzte.

Paul Schönhuber, Ingolstadt