Kampala
Slumkinder üben das Spiel der Könige

15.06.2018 | Stand 23.09.2023, 3:48 Uhr
Hoch konzentriert verfolgen die Slumkinder in der Som Chess Academy im Elendsviertel Katwe die Erklärungen von Robert Katende. −Foto: Rast

Kampala (DK) Im Elendsviertel Katwe in der ugandischen Hauptstadt Kampala herrschen Armut, Hunger und Verzweiflung. Der Schachtrainer Robert Katende lehrt die Slumkinder das Spiel der Könige und eröffnet ihnen damit einen Weg in ein besseres Leben.

Der gelbe Jutesack ist knapp halb so groß wie Steven. Der Zehnjährige ergreift ihn, dreht ihn auf den Kopf und schüttet den Inhalt heraus. Tausende weiße und schwarze Schachfiguren ergießen sich auf den Fußboden. Mit ebenso schmutzigen wie flinken Fingern schnappt sich der Straßenjunge zunächst die Bauern und dann die wertvolleren Figuren, sortiert sie nach Farben und platziert sie binnen Sekunden routiniert auf dem Schachbrett. Ein zweiter Bub setzt sich dazu und schon beginnt das Duell. Gespielt wird auf roh gezimmerten Bänken. Tische? Fehlanzeige. Andere Kinder scharen sich um das Brett. Stille herrscht hier nicht. Jeder Zug wird unter den Kennerblicken des jungen Publikums fachkundig kommentiert.

Um die Mittagszeit herrscht Hochbetrieb an der Som Chess Academy. Dutzende Straßenkinder üben sich hier im Spiel der Könige. Stolz prangt der Name der Einrichtung an der Mauer des flachen grauen Gebäudes. Es steht am Rande von Katwe, dem schlimmsten und größten der acht Slums von Kampala. Hier, nahe dem Zentrum der ugandischen Hauptstadt, gibt es keinen Strom, kein Wasser und keine Abwasserentsorgung - dafür Armut, Krankheiten und Verzweiflung im Überfluss. Katwe ist eine der schrecklichsten Gegenden auf der Erde, ein Ort totaler Hoffnungslosigkeit.

Früher spülten die Bürgerkriege täglich eine Flut von Menschen in diesen irdischen Hades, heute treibt die Landflucht die Menschen aus ihren Dörfern. Die gigantische Geburtenrate tut ein Übriges. Einen Ausweg gibt es kaum. Es heißt: Wenn du in Katwe zur Welt kommst, dann stirbst du auch in Katwe. Wer aus diesem Slum stammt, dem haftet im Rest von Uganda ein Stigma an, dem wird die Menschenwürde vorenthalten.

Alkoholismus, Drogensucht und Gewalttaten sind alltäglich. Vielen Frauen bleibt nur die Prostitution, um ihren Nachwuchs ernähren zu können. Hunderte halbnackter und verwahrloster Kinder rennen auf den Straßen herum, spielen im Dreck. Die Fäkalien laufen in Bächen die engen Wege hinab. Das Elendsviertel liegt an einem Hang. Wenn es regnet, verwandelt sich der tiefer liegende Stadtteil in eine stinkende Kloake. Die Brühe schwappt in die winzigen Häuser und macht sie unbewohnbar. Sogar die vielen Ratten flüchten dann. Im Smog von Kampala erkennt man von Katwe aus die Umrisse der Luxushotels und Appartementgebäude, wo die Reichen leben. Für die Menschen im Slum sind diese Orte so weit entfernt wie der Mond.

In Katwe gibt es nicht einmal Bettler. "Wer sollte ihnen etwas geben?", fragt Robert Katende den Redakteur des DONAUKURIER. "Die Leute hier haben selbst nichts." Katende ist muskulös, dynamisch, ein Sportler. Sein Blick ist scharf und verrät seine Intelligenz. Er ist etwa 40 Jahre alt, sein genaues Geburtsjahr weiß er nicht. Dafür kennt er Katwe und die dort lebenden Menschen sehr gut. Sie winken ihm zu, wenn er mit seinem klapprigen weißen Bus durch die Schlaglöcher holpert. Katende ist in Katwe ein Vorbild, ja ein Held. Denn er hat sich aus dem Elend herausgearbeitet.

Doch der Sozialarbeiter hat seiner trostlosen Heimat nicht den Rücken gekehrt. Er will den Kindern dort eine Chance auf ein würdiges Leben eröffnen. In seiner Jugend zählte Katende zu den besten Fußballspielern Ugandas. Als Trainer versuchte er, die Buben aus dem Slum über den Sport von der Straße zu holen. Doch nach einer schweren Verletzung musste er sich ein anderes Betätigungsfeld suchen. Katende entdeckt den Schachsport für sich und die verlausten Kinder aus den erbärmlichen Hütten. Die zunächst absurd anmutende Idee entpuppt sich rasch als Erfolgsmodell. Inzwischen betreibt er sieben Schachakademien in Kampala, elf weitere in anderen ugandischen Städten. Er hat sein Konzept nach Kenia, Botswana und Kamerun "exportiert" und einen Stab an Schachlehrern ausgebildet. "Insgesamt werden in meinen Projekten über 1700 Kinder im Schach unterrichtet", sagt er stolz. Mit dem Handy im Dauereinsatz ist Katende das Herz und der Motor der Som Chess Academy.

Der rasante Aufschwung ist auch einer Reihe glücklicher Zufälle zu verdanken. Im Jahr 2005 hatte sich ein halb verhungertes Mädchen auf die Veranda in Katwe verirrt, wo Katende mit seinen Kindern damals an den Schachbrettern saß. Ob die etwa neun Jahre alte Phiona Mutesi mehr an dem Spiel oder an der Schale kostenlosen Haferbreis, die jeden Mittag verteilt wurde, interessiert war, ist unklar. Doch Phiona Mutesi entpuppt sich als Naturtalent. Als 15-Jährige wird sie ugandische Meisterin, gewinnt ihre ersten internationalen Turniere. Ein US-Journalist wird auf das Schach spielende Straßenkind aufmerksam. Sein Bestseller "Das Schachmädchen" wird in 14 Sprachen übersetzt. Der Disney-Konzern verfilmt die Aschenputtel-Geschichte in Starbesetzung unter dem Titel "Queen of Katwe". Der Film lief 2016 auch in den deutschen Kinos. Phiona Mutesi besucht derzeit ein College in den USA. Die ebenso ehrgeizige wie hoch intelligente junge Frau will Ärztin werden - und trainiert nebenbei für den Titel der Schachgroßmeisterin.

Für die anderen jungen Schachfans in Katwe ist Phiona das große Vorbild. Ihr Schicksal beweist, dass ein Entkommen aus dem Elend möglich ist. Zur Motivation hängt ein zerfledertes buntes Filmplakat von "Queen of Katwe" in der Som Chess Academy. Robert Katende nutzt das Schachspiel, um den Slumkindern Fähigkeiten und Werte zu vermitteln, die er in Schlagwörtern preist: Improvisationsvermögen, Ziele setzen, Planung, Fairness, Respekt für den Mitmenschen und Zusammenarbeit. Mit dieser Grundausstattung schaffen sie es vielleicht, Katwe eines Tages den Rücken kehren zu können. Etwa 70000 US-Dollar benötigt Katende jährlich, um sein Projekt weitertreiben zu können. Jeder Cent kommt bei den Kindern an, für deren bessere Zukunft er kämpft.

In bunten Plastiktellern wird das Mittagessen verteilt: verklebter Reis mit schwarzen Bohnen. Die Kinder stellen sich diszipliniert an. Sie wissen, dass genug da ist, dass jeder satt wird. Für die meisten ist es die einzige Mahlzeit des Tages. Sie essen ohne Besteck, mit den ungewaschenen Fingern. Auch Steven sichert sich seine Ration. Doch seine Aufmerksamkeit gehört weiter dem Schachbrett, kritisch beäugt er jeden Zug seines Gegners. Mit der rechten Hand isst er, mit der linken bewegt er seine Figuren. Steven ist trotz seiner Jugend klar, dass es hier nicht nur um eine simple Schachpartie geht. Hier entscheidet sich das Spiel seines Lebens.

Harald Rast