Langenbruck
Sie starben in einem Flammenmeer

10.02.2020 | Stand 23.09.2023, 10:31 Uhr
Von dem Doppeldeckerbus blieb nach dem Unfall nur das Gerippe. Er wurde nach Manching geschafft, um die eingeklemmten Toten bei der Bundeswehr-Erprobungsstelle zu bergen. −Foto: Johnmüller (Archiv)

Langenbruck - Am Dienstag vor 35 Jahren ging ein Reisebus mit britischen Militärmusikern auf der A9 bei Langenbruck in Flammen auf. 21 Menschen kamen um. Der Ort bewies einmal mehr seine Hilfsbereitschaft. Viele seelische Wunden sind aber bis heute nicht verheilt.

Als ob es damals nicht schon genug gewesen wäre, am 9. August 1968. An jenem schwarzen Freitag war ein britisches Flugzeug bei Langenbruck im Kreis Pfaffenhofen vom Himmel gefallen und an der Autobahn zerschellt. Alles, was in dem kleinen Ort Beine hatte, war gerannt, um zu helfen, doch für die 48 Menschen an Bord der Vickers Viscount gab es keine Rettung. An Bord befanden sich zahlreiche junge Menschen, viele gehörten einem Wanderverein im englischen Liverpool an. Der Schock wirkte Jahre später noch nach, als das nächste Trauma anstand: Am 11. Februar 1985, vor genau 35 Jahren, kam es fast an derselben Stelle erneut zur Katastrophe in der etwa 1200 Seelen zählenden Gemeinde.

Helfer eilen zur Unglücksstelle

Ein Reisebus prallte gegen einen mit Flugbenzin beladenen Tanklaster und ging binnen Sekunden in Flammen auf. Am Ende kostete das Inferno 21 Menschenleben. Die Freiwillige Feuerwehr im Ort war – wie Kräfte aus allen anderen Kommunen rundherum – rasch zur Stelle gewesen. Die Langenbrucker wissen um die Tücken dieses Autobahnabschnitts, oft verursachen übermüdete Urlauber nach langer Fahrt in den Süden Unfälle. Die Einsatzkräfte an der A9 sind bestens ausgebildet, aber diesmal sehen sie schnell ihre Grenzen: Die Fahrbahn ist ein Flammenmeer, der Doppeldeckerbus mit 43 Insassen brennt lichterloh. „Das war kein leichter Anblick“, erinnert sich Josef Weber, damals Feuerwehrkommandant. Können wir doch noch jemanden retten? Trotz der enormen Hitze zögern die Feuerwehrleute keinen Moment und setzen das eigene Leben aufs Spiel. „Mit Atemschutzgeräten sind wir in den brennenden Bus rein und haben nach Verletzten gesucht“, sagt Weber. Doch im dichten Qualm finden sie nur Tote, „wir haben sie zunächst gar nicht als Menschen erkannt. Wie Puppen haben sie ausgesehen, total verkohlt und geschrumpft. Das geht einem ganz schön an die Nieren“.

"Wahnsinnige Schreie"

Die Männer ziehen sich zurück, ihnen bleibt nur, den Reisebus zu löschen. Ein Augenzeuge berichtet von „wahnsinnigen Schreien“ der Verletzten und Sterbenden. „Das ging mir durch Mark und Bein.“ Wieder sind die Opfer Briten, Mitglieder der Royal Air Force (RAF) Band Germany in Rheindahlen. Auf der A9 spielen sich dramatische Szenen ab. Die Überlebenden laufen im Schock schreiend herum. Andere wälzen sich stöhnend im Schnee, um ihre Wunden zu kühlen. Rasch treffen immer mehr Helfer von allen Seiten ein. Polizei und Einsatzleitung beschließen, im etwa 200 Meter entfernten Gasthaus Fröhlich ein Lazarett einzurichten, zumal nicht klar ist, ob weiter Explosionsgefahr am Unfallort besteht. Dorfbewohner tauchen auf, stützen die Verletzten und führen sie zur Sammelstelle. Als der Bus gelöscht ist, finden die Einsatzkräfte 20 Tote, manche wie festgeschweißt in ihren Sitzen. Andere Opfer im Oberdeck, dessen Boden durchgeschmort ist, hängen kopfüber herab. Der Anblick ist unerträglich. Marille Hickele gehört damals zu den zahlreichen Helfern.

Die Krankenschwester aus dem Kipfenberger Raum hatte am Ingolstädter Klinikum in der Notaufnahme Dienst, als der Alarm eingeht. „Wir sind sofort mit dem Rettungshubschrauber zum Unfallort, alles war weiß dort vom Löschschaum. In den Busfenstern sind Tote gehängt, es waren grausame Szenen. Ich bin dann rüber zum Gasthaus, um bei der Versorgung der Überlebenden zu helfen. Diesen Einsatz werde ich nie vergessen.“ 18 Musiker, ein englischer Militärpolizist und der deutsche Chauffeur sind sofort tot, 23 Insassen überleben verletzt, einer stirbt vier Wochen später. Konrad Müller von der Kriminalpolizei Ingolstadt muss die bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Leichen identifizieren. „Das ist nur noch über das Gebiss möglich gewesen.“ Drei Tage kämpft der sonst als so hart geltende Ermittler mit sich und dieser Aufgabe. „Es war einfach nur schrecklich, der Geruch, alles. Es war das einzige Mal, dass ich meinen Beruf aufgeben wollte, so schlimm“, sagt der heute 84-Jährige. Als die Polizei den Unfall aufnimmt, findet sie den verkohlten Busfahrer in seinem Sitz, die Arme von sich gestreckt, als wollte er das Unheil noch wegstemmen. Wie hatte es zu der Katastrophe kommen können?

Erste Vermutungen gehen dahin, der Kerosin-Tankzug könnte Sprit verloren haben, auf dem der Bus ins Rutschen geraten war. Nach anderen Mutmaßungen könnte der Busfahrer eingenickt sein und den Tanklaster deshalb touchiert haben. Die genaue Unfallursache bleibt bis heute offen. Corporal Frans de-Leuw war damals 31 Jahre alt und zur Unfallzeit direkt hinter dem Chauffeur gesessen. Dort und gegenüber auf der anderen Gangseite gab es zwei Tische. „Auf längeren Reisen haben wir immer gern Karten gespielt“, berichtet der Klarinettist im Gespräch mit unserer Zeitung. Er lebt inzwischen auf Kreta. Mitten im Bridge-Spiel hört der 31-Jährige plötzlich einen Schrei des Fahrers, was gegen die Annahme spricht, er könnte eingeschlafen sein. Dann geht alles ganz schnell. De-Leuw sieht etwas wie Sternfunkeln vor der Frontscheibe, dann bricht das Glas, die Feuerlanze bricht herein. Der Corporal rennt um sein Leben, während die Flammen nach ihm züngeln und der Bus wie in Zeitlupe Richtung Standstreifen ausbricht. „Der einzige Gedanke hat meiner Familie gegolten“, weiß Frans noch.

Er schafft es durch den mittleren Ausgang ins Freie. Ohne Schuhe steht er im Schnee, hilft anderen Verletzten, gemeinsam begeben sie sich aus der Gefahrenzone, weil sie befürchten, der Kerosin-Tankzug könnte explodieren. „Alles erschien so unwirklich.“ Kurz danach tauchen schon Einheimische auf und begleiten die Briten in den Gasthof. Sie sind gerettet. Später kommt Frans zur Behandlung in eine Bogenhausener Spezialklinik. Mit dem Trauma kommt er inzwischen klar. Paul Sargeant (63) hatte damals ebenfalls um sein Leben gekämpft – und gewonnen. „Ich war im Oberdeck gesessen und habe ein Buch gelesen, als es passierte“, erzählt er am Telefon. Das Geräusch des Aufpralls, die Feuerwalze, „es war schrecklich. Wie ich von da oben rausgekommen bin, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich irgendwie unten rausgepurzelt bin.“ Sargeant wartet im verschneiten Feld, bevor Helfer erscheinen und ihn nach Langenbruck begleiten. Obwohl nicht allzu schwer verletzt, kämpft der Engländer lange gegen dieses Trauma an. „Ich habe über 30 Jahre gebraucht, endlich damit fertigzuwerden.“ Zwischendurch sei Alkohol ein Tröster gewesen, mittlerweile fühle er sich stabil.

21 Businsassen überlebten dagegen nicht. Zu ihnen gehört Sean Cripps (22), ein fröhlicher, junger Mann. Auch er hat es zwar noch hinaus aufs Feld geschafft. Mit eisernem Willen kämpft er sich schwer verbrannt neben Paul Sargeant zum Gasthaus und kommt sofort ins Krankenhaus nach München. „Meine Mutter ist am Abend von der RAF informiert worden“, sagt Seans Zwillingsschwester Karen Weaver. Sie arbeitet gerade im Pub, als die Schreckensbotschaft eingeht. Obwohl sie noch gar nichts weiß, erzählt sie jedem: „Er ist nicht tot! Das hätte ich gespürt, das war unsere spezielle Zwillingsverbundenheit.“ Tags darauf besucht sie Sean mit dem Vater und dem älteren Bruder in München. Sie sehen seine Wunden, sie leiden mit ihm und können doch nicht mehr tun, als abzuwarten.

Ein langer Kampf

Sean quält sich vier Wochen lang. Am 15. März, zehn Tage nach seinem und dem Geburtstag seiner Schwester, stirbt er mit 22 Jahren als letztes Opfer des tragischen Unglücks. „Ich verlor auch einen Teil von mir, er war mein Zwillingsbruder“, sagt Karen. Lange Zeit konnte sie nicht mehr unbeschwert leben oder Geburtstag feiern – ja, sie machte sich selbst Vorwürfe, noch am Leben zu sein, während er tot war. Heute sei sie weniger hart zu sich, leide aber weiter unter dem Verlust. Wie andere Opfer-Angehörigen. Clare Thomas hatte ihren Mann Alun (32) am Morgen in Rheindahlen verabschiedet. Sie verlor den Partner, die beiden Töchter den Vater. Clare hat bis heute keine Ruhe gefunden: „Ich brauche Antworten, was an jenem Tag wirklich passiert ist.“

Zu den Witwen gehört auch Sue Saunders-Robson, ihr Andrew (29) verbrannte ebenfalls. Sie mussten schmerzhaft lernen: Zeit heilt doch nicht alle Wunden. Es hilft ihnen aber, dass die Royal Air Force sie auffängt und – wie auch heute Vormittag – alle Jahre in einem feierlichen Zeremoniell der Toten gedenkt. Möglicherweise tröstet es die Hinterbliebenen, dass die Menschen in Langenbruck die Opfer nie vergessen haben. „Vielleicht“, sagt der damalige Manager der RAF Western Band, Tim Webb, „waren wir auch ein wenig nachlässig damit, richtig wertzuschätzen, mit welchen Szenen die Retter damals konfrontiert waren. Das muss wirklich grausam gewesen sein.“

Horst Richter