Ingolstadt
"Seid Sand im Getriebe der Welt"

Tom Neumaier wurde mit dem Kunstpreis der Stadt Ingolstadt ausgezeichnet - Paula Gendrisch mit dem Kunstförderpreis

03.04.2022 | Stand 23.09.2023, 0:33 Uhr
Dankesrede von Tom Neumaier: "Plädoyer für etwas mehr Unordentlichkeit." −Foto: Weinretter

Ingolstadt - Kennen Sie das Schlappophon?

Heinz Grobmeier hat dieses Instrument aus Wasserabflussrohren gebastelt, die wie Orgelpfeifen nebeneinander aufgereiht sind, eineinhalb Oktaven umfassen und mit Badeschlappen betrommelt werden. Wie das klingt, konnte man am Freitagabend im Museum für Konkrete Kunst (MKK) erleben, denn Grobmeier war zuständig für die musikalische Umrahmung des Festaktes, bei dem der Kunstpreis 2021 der Stadt Ingolstadt an Tom Neumaier und der Kunstförderpreis an Paula Gendrisch übergeben wurde.

Oberbürgermeister Christian Scharpf (SPD) erinnerte zunächst an die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die in den letzten zwei Jahren vor allem die Kulturszene getroffen hat. Theater, Konzerte, Veranstaltungen waren abgesagt, Museen und Kulturtreffs geschlossen worden. "Es hieß, Kultur sei nicht systemrelevant. " Als Stadt müsse man die Versorgung der Bürger in allen Bereichen sicherstellen. "Auch Kultur gehört zur Daseinsvorsorge. Kultur prägt eine Stadt und macht sie lebenswert. " Aufgabe der Stadt sei es, Rahmenbedingungen zu schaffen, aber erst Menschen wie Tom Neumaier und Paula Gendrisch füllten sie mit Kreativität. Beide Künstler hätten sich in besonderer Weise um das Kulturleben der Stadt Ingolstadt verdient gemacht.

"Seid unbequem, seid Sand nicht das Öl im Getriebe der Welt": Das Gedicht "Träume" von Günter Eich stellte Kulturreferent Gabriel Engert an den Beginn seiner Laudatio auf Tom Neumaier. Er zeichnete dessen Lebensweg nach und thematisierte Arbeiten aus den vergangenen Jahren, z. B. "Stadtgeflüster", "Travelling Forest", das "Kleine Frankenstein Depot", die "Senfgruben" oder die jüngsten Interventionen auf der Landesgartenschau. Stets gehe es Tom Neumaier um die Irritation der Wahrnehmung, so Engert. "Kunst im besten und aktuellsten Sinne hinterfragt, stellt Fragen, legt die Finger in die Wunden, provoziert, bewegt und fasziniert. Im Idealfall gelingt es ihr, den Menschen aus den gewohnten Wahrnehmungsmuster zu reißen und die Dinge hinter den Dingen sichtbar zu machen. "

Der so Geehrte dankte für Preis und Lob und schloss in seinen Dank auch seine Frau Gabriele ein, "der ja eigentlich ein Teil des Preises zusteht für die zahlreichen Performances und Ausstellungen, die wir gemeinsam gemacht haben". In seiner Rede bezog er sich auf seine aktuelle Ausstellung im MKK: "Ein Künstler hat das Privileg, nicht unbedingt funktionieren zu müssen. " In der Schau "Bauhof-Design Stadtverkehr(t)" rebellieren ausrangierte Objekte der urbanen Ordnungssysteme gegen die ihnen zugeordneten Funktionen, sieht man Fragezeichen auf Vorfahrtachten-Schildern oder Blindenpunkte auf Vorfahrtschildern. "Urbane Räume sollen immer auch Möglichkeitsräume einer Gesellschaft sein", erklärte Neumaier. "Es geht nicht um immer mehr, immer schneller. (?) Es geht um das Hinterfragen von Systemen, in den wir oft unbewusst verfangen sind. "

Die Schauspielerin Paula Gendrisch, die nicht nur für ihre Arbeit für Kinder und Jugendliche am Theater, sondern für ihr großes Engagement für das Kunst- und Kulturzentrum Kap94 gewürdigt wurde, hatte sich Markus Jordan als Laudator gewünscht. "Du bin ein ganz wichtiger Künstler - für diese Stadt und für mich. " Jordan war 2019 selbst mit dem Kunstförderpreis ausgezeichnet worden. Er berichtete von Paula Gendrischs Engagement neben ihrer Theaterarbeit - etwa in der Klima-AG, bei der Tafel und vor allem im Kap94. Ihr Blick von außen habe Ingolstadt neue Impulse beschert. Eine "gesunde Unzufriedenheit" speise ihren Willen zur Veränderung und Gestaltung. Dann ließ Markus Jordan als Tonspur eine kurze Sequenz eines alten Imagefilms abspielen, in der Ingolstadt "als eine der merkwürdigsten Mischungen aus Vorgestern und Übermorgen" bezeichnet wurde. Zum einen ein Verweis auf sein geplantes Projekt "DAS LABOR Retrofuturistische Visionen", bei dem auch Paula Gendrisch mitwirken wird, zum anderen eine Anspielung auf das Dauerbrenner-Thema Kammerspiele. "Bald werden sich die Ingolstädter entscheiden dürfen, ob sie von vorgestern sind oder von übermorgen. "

Paula Gendrisch strahlte nach all diesem Lob. "Ich bin ganz glücklich, dass ich den Preis bekomme. Er bedeutet für mich, dass meine Arbeit gesehen wird und dass sie gewollt ist. " Auch sie sprach die unklare Situation mit den Kammerspielen an, aber auch den Schock, als es kurzzeitig so aussah, als würde das Projekt Kap94 aufgrund der baulichen Situation und technischer Mängel scheitern und all die Arbeit der vergangenen Jahre umsonst gewesen sei. "Danke, dass es nicht passiert ist", sagte Paula Gendrisch. Die Preisträgerin dankte vor allem den Ehrenamtlichen rund um das Kap94, aber auch Intendant Knut Weber und Julia Mayr, der Leiterin des Jungen Theaters. "Desto mehr Orte der Kultur eine Stadt zu bieten hat, desto spannender wird es. "

Und was geschieht mit dem Preisgeld? Paula Gendrisch will die 3000 Euro, die mit dem Kunstförderpreis verbunden sind, für eine Fortbildung nutzen. "Mich würde interessieren, wie ich meine künstlerische Arbeit mit Themen oder Tätigkeiten verbinden kann, die sich mit der Erhaltung unseres Lebensraums beschäftigen. " Tom Neumaier hat einen Teil des Preisgeldes (insgesamt 6000 Euro) in den Umbau einer alten Scheune gesteckt. Das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert in Solnhofen soll als Atelier und Depot genutzt werden.

DKDie Preisträger: Tom Neumaier wurde 1948 in München geboren, begann in Frankfurt und Mannheim das Studium der Psychologie, Soziologie und Literatur, brach das Studium aber ab und arbeitete zunächst in der Gießerei Bopp und Reuther, bevor er in Ingolstadt bei Audi am Motorenband begann. Später schulte er zum Maschinenschlosser um, beschäftigte sich aber parallel mit Kunst und Grafik. Er war Mitbegründer des Grafikbüros Graphitec. Obwohl es durchaus erfolgreich arbeitete, stieg er nach einigen Jahren aus dem Büro aus und wirkt seither als freier Künstler international. Paula Gendrisch wurde 1986 in Rinteln im Weserbergland geboren, studierte Physical Theatre an der Folkwang Universität der Künste Essen sowie Theaterwissenschaften und Literaturwissenschaften in Bochum. Sie spielte am Schauspielhaus Bochum, arbeitete mit dem Performancekollektiv Anna Kpok und entwickelte und performte eigene Stücke. Seit September 2015 ist sie Ensemblemitglied des Jungen Theaters Ingolstadt. In Ingolstadt rief sie mit anderen Kulturschaffenden den KulturKap e. V. ins Leben, der die Kunst- und Kulturwerkstatt Kap94 betreibt und war bis 2021 Teil der Vorstandschaft. Hier entwickelte sie verschiedene spartenübergreifende Formate, unter anderem das Kap der Kinder. DK


Anja Witzke