Oper
Schwächlinge im Unrechtssystem

Verdis "Don Carlos" am Staatstheater Nürnberg mit Hochdruck und Höchstgeschwindigkeit

01.10.2019 | Stand 02.12.2020, 12:56 Uhr
Vitaler Pessimismus: Szene aus "Don Carlos" mit Tadeusz Szienkier (Don Carlos) und Emily Newton (Elisabeth). −Foto: Ohla

Nürnberg (DK) Viel Applaus gab es im vollen Nürnberger Opernhaus nach der Premiere von Giuseppe Verdis längster und stärkster Oper. Inklusive Pause kam man auf nur drei Stunden und 34 Minuten. Das ist sehr wenig für eine Oper, die schon mal vier bis fünf Stunden dauern kann.

Möglich wurde das schmale Zeitfenster durch den Verzicht auf mehrere Puzzleteile aus der hier verwendeten französischen Fassung von 1882, für die Verdi seinen Textdichter Camille du Locle 14 Jahre nach dem Probenkrach vor der Pariser Uraufführung 1867 um eine Revision des Librettos gebeten hatte. In Nürnberg setzt man szenisch und musikalisch auf Drive wie von aufheulenden Motoren und auf eiskalte Action. Die französische Sprache dient als Brems- und Kühlflüssigkeit gegen Überhitzung.

Soeben erhielt Nürnbergs Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz den Opera Award 2019 des Magazins "Oper!" als "Beste*r Dirigent*in 2019". Sie fegt wie mit einem goldenen Besen durch Verdis vierte und letzte Oper nach Schiller. Ihr mit der Staatsphilharmonie Nürnberg entfesselter Furor basiert auf Präzision und Sorgfalt. Da ein besonders klar gesetztes Trompetensignal, dort ein wunderschönes Klarinettensolo und immer wieder spannend modellierte Mittelstimmen dank Verdis an Berlioz geschulter Instrumentationsfinesse.

Zum orchestralen Treibstoff hätte die italienische Übersetzung besser gepasst. Durch die Entscheidung für die französische Sprache wird allerdings noch deutlicher, dass Verdis "Don Carlos" eine pausenlose Kette von Etikette-Verstößen und Tabubrüchen ist. Höfische Konversationen zerschellen an menschlichem Versagen. Das musikalische Überkochen der Produktion wird nur möglich durch die enorme Präsenz des sich mit Hochdruck in seine Partien stürzenden Nürnberger Ensembles. "Schwächling" ist das häufigste Wort in Jens-Daniel Herzogs Regiekonzept. Drei szenische Hauptstränge zieht Herzog aus Verdis Grand Opéra nach Vichard de Saint-Réals Nouvelle historique "Don Carlos" und Friedrich Schillers Dramatischem Gedicht. In den ersten beiden Stunden sitzt Carlos auf einem grünen Sessel wie auf der grünen Wiese. Für ihn zerfließen Grenzen des träumerischen Erinnerns an das Glück mit seiner Ex-Braut und Ad-hoc-Stiefmutter Elisabeth ständig zur Realität. Tadeusz Szlenkiers strahlender Tenor passt weitaus besser zu Carlos illusionärer Vergangenheit als zu den Herausforderungen einer brisanten Zukunft. Emily Newton löst sich bravourös aus dem bei dieser Partie oft erlebten Dauerlamento. Das erotische Interesse ihrer Elisabeth von Valois an dem Ex-Verlobten glüht noch immer. Deshalb strahlt ihr Sopran auch bei den allertiefsten Kränkungen.

Mathis Neidhardts Wände drehen vom klinischen Weiß zum abweisenden Braun der königlichen Schaltzentralen. Erst zerren Prinzessin Eboli und die Hofdamen dem Pagen Thibault die Hosen vom Leib, wenig später liquidieren Palatine Philipps II. die Gräfin d'Aremberg. Den Dolchstoß in den Rücken seines Kurzzeit-Favoriten Posa, dem Sangmin Lee eine faszinierende Gesangs- und Bühnenleistung widmet, erledigt Philipp II. selbst. Sich ausweitende Blutflecken signalisieren oft Tyrannenwillkür auf Sibylle Gädekes zeitlos gegenwärtigen Kostümen. Nicolai Karnolsky ist als Philipp II. wie ein leitender Buchhalter, dem die Krone zu groß wird. Seine Gunstbezeugung für Posa gleicht einer Erpressung vor Zeugen. Elisabeth ekelt sich vor den feuchten Küssen des ihr aufgezwungenen Mannes. Der von Nicolai Karnolsky mit fahlen und doch aufreizenden Farben gestaltete Monolog zeugt mehr von niedergezwungener Aggression als von nächtlicher Depression. Sein Gewaltpotenzial degradiert den Großinquisitor trotz Taras Konoshchenkos nachtschwarzem Totaleinsatz zur Nebenfigur.

Perspektive Nummer Drei: Die bei Verdi gestrichene Infantin, mit der Philipp II. bei Schiller kurz spielt, wird zu einer stummen Hauptfigur, die zerrissen ist zwischen Philipps Aufmerksamkeiten und Elisabeths geöffneten Armen. Ottilie Herzog balanciert zwischen den Verhaltensmustern Unschuldslamm und Kanaille. Die Infantin im Vorschulschulalter ist es hier, die Elisabeths Schmuckschatulle entwendet und mit eindeutiger Geste Carlos und Elisabeth ans Messer liefert.

Die sechs flandrischen Deputierten, an deren Tötung sich Posa unter Zwang beteiligt, und Philipps Schergen haben mehr Bedeutung als die von Tarmo Vaask glutvoll einstudierten, aber szenisch bei der als Karneval gefeierten Ketzerverbrennung etwas flach bleibenden Chormassen. Martina Dike liefert als Prinzessin Eboli ein mit sinnlichem Appeal durchmessenes und einer machtvoll-strahlenden Arie gekröntes Rollenporträt. Melancholie gibt es in diesem Nürnberger "Don Carlos" mit grellen Farben gemalten Nürnberger "Don Carlos" kaum: Vitaler Pessimismus im Geschwindigkeitsrausch.
ZUM STÜCK
Theater:
Staatstheater Nürnberg
Regie:
Jens-Daniel Herzog
Dirigentin:
Joana Mallwitz
Bühne:
Mathis Neidhardt
Nächste Aufführungen:
4., 8., 13., 20., 30. Oktober.
Kartentelefon:
(0180) 1344276