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"Schwabing spielt Weltrevolution"

Chronik der Münchner Räterepublik: Victor Klemperers Tagebuch von 1919

09.08.2015 | Stand 02.12.2020, 20:56 Uhr

Am meisten erstaunte Victor Klemperer die Passivität der Münchner. Sie waren mittendrin in einer Revolution, betrachteten das Ganze aber eher wie Theaterzuschauer: „München nimmt sein tragikomisches Schicksal passiv hin“, schrieb er. „Die Passivität ist die einzige echtbayerische Zutat zu dieser Revolution, die von Nichtbayern gespielt wird und fremde Namen und fremde Institutionen kindisch nachahmt.“ Als prototypisch hielt der Chronist der Münchner Räterevolution das Bild eines Bürgerehepaars fest, das inmitten der Ereignisse stundenlang im Fenster lag, „als gehöre es zur Architektur des Hauses“.

Im Winter 1919 war Klemperer mit seiner Frau nach München gekommen, wo er sich als Privatdozent durchschlug. Gleichzeitig hatte er einen Auftrag als Korrespondent für die „Leipziger Neuesten Nachrichten“ angenommen. Unter dem Kürzel A.B. – es stand für „Antibavaricus“ – berichtete er von den politischen Umwälzungen, die schließlich in eine kurzlebige kommunistische Räterepublik mündeten. Klemperers Artikel sind allerdings nur zum geringen Teil veröffentlicht worden, viele erreichten ihr Ziel gar nicht, weil München damals von allen Postwegen abgeschnitten war.

Veröffentlichte und unveröffentlichte Artikel hat jetzt der Aufbau Verlag publiziert: „Man möchte immer weinen und lachen in einem.“ Seinen besonderen Reiz erhält das Buch zusätzlich dadurch, dass die Artikel aus dem Jahr 1919 mit Klemperers Erinnerungen von 1942 abwechseln, in denen er die Revolutionsereignisse rückblickend Revue passieren lässt. Diese wurden bisher noch nicht veröffentlicht. Klemperers erst 1995 herausgegebene Tagebücher „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ sind eines der bewegendsten Dokumente zur Judenverfolgung im Dritten Reich.

Klemperer (1881–1960) war ein guter Reporter. Präzise und anschaulich schildert er den Lesern im fernen Leipzig die verwickelten Geschehnisse im revolutionär aufgeheizten München. So gelingen ihm plastische Porträts der führenden Polit-Figuren. Etwas amüsiert, wenn auch nicht ohne Respekt vor ihrem Idealismus schaut er auf „Edelanarchisten“ wie den Schriftsteller Erich Mühsam. Diesen nennt er ein „liebevolles, hilfreiches, unkriegerisches Geschöpf“, das vom Berliner Caféhaus-Literaten zum Revolutionär mutierte.

Der sozialdemokratische Ministerpräsident Kurt Eisner, der die Anfangszeit prägte, bis er ermordet wurde, ist für ihn dieses „zarte, winzige, gebrechliche, gebeugte Männchen, dem niemanden reinen Willen absprechen konnte“. Trotzdem hat für Klemperer diese Bohème-Revolution, die der kommunistischen Räterepublik vorausging, etwas Lächerliches und Unernstes: „Schwabing spielt Weltrevolution.“

Mit den Spartakisten, die im April 1919 an die Macht kamen, mochte er sich allerdings noch weniger anfreunden: „Jetzt, wo man sich um die Errichtung einer wahren Demokratie bemüht, ist mir Spartakus tausend Mal verhasster, als mir zu Wilhelms Zeit die Rechte und die Offiziere waren.“ Der Humanist Klemperer bleibt den Liberalen und damit auch dem demokratischen Geist der Weimarer Republik verbunden.

Schon damals beobachtete Klemperer mit Sorge den zunehmenden Antisemitismus. Für die Münchner waren die Juden und die Preußen an allem schuld. Und auch für die Studenten war „der Jude der bequeme allgemeine Feind“. Noch war Klemperer nicht selbst betroffen: „Persönlich habe ich die ganze Münchner Zeit über niemals unter Antisemitismus zu leiden gehabt, aber bedrückt und isoliert fühlte ich mich doch durch ihn.“ dpa

Victor Klemperer: Man möchte immer weinen und lachen in einem. Revolutionstagebuch 1919, Aufbau Verlag, Berlin, 263 Seiten, 19,95 Euro.