Schulische Ausbildung in Russland - Alltag am Gymnasium Nr. 16 in Sotschi

24.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:38 Uhr

−Foto: Josef Bartenschlager

Ingolstadt (DK) Ganztagesschule, Mittagsbetreuung, Mittel- statt Hauptschule, Einführung des zwölfjährigen Gymnasiums, teilweise Rückkehr zum Abitur doch nach 13 Jahren, Diskussion über die Errichtung von Gesamtschulen - seit vielen Jahren ringt Bayern um die bestmögliche Ausbildung der Jugend. Dabei ist der Freistaat nur eines von 16 Bundesländern, von denen jedes eifersüchtig auf seine Kompetenz in Kultussachen wacht und sein eigenes Rezept zusammengerührt. Da mag sich mancher überlegen, wie es denn in anderen Ländern aussieht.

Russland, das größte Flächenland der Erde, steht ebenso vor der Herausforderung, Kinder und Jugendliche so auszubilden, dass sie die Zukunft meistern können. Die Fragen, was sie als Rüstzeug für ihr späteres Leben benötigen, beantworten die verantwortlichen Politiker, Pädagogen und Eltern zum Teil anders als hierzulande. Und manches, was hier kritisch hinterfragt würde, ist dort Selbstverständlichkeit.

Als Beispiel dient das Gymnasium Nummer 16 im südrussischen Sotschi. Diese Einrichtung und das Leben dort mögen als Beispiel für Schule in Russland gelten.

Eine Glocke läutet den ersten Schultag ein. Nein, keine knarzigen Töne über den Lautsprecher, sondern eine richtige Glocke. Mit fröhlichem Lachen lässt es eine künftige Erstklässlerin bimmeln. Und damit sie alle nicht nur hören, sondern auch sehen können, trägt ein Elftklässler die Kleine auf seinen Schultern. Dieses Ritual gleicht sich in allen russischen Schulen am 1. September. Landesweit beginnt nach den dreimonatigen Sommerferien wieder der Unterricht. Der „Tag des Wissens“, so der offizielle Titel, ist angebrochen. Den Auftakt bildet die Feier „Erstes Klingeln“ für die Erstklässler. Der Schulanfang nimmt einen großen Stellenwert ein, wird wie ein richtiger Feiertag begangen.

Die Schüler sind festlich gekleidet, die meisten Mädchen haben Schleifen im Haar und die Erstklässler sind nicht weniger aufgeregt als in Deutschland. Nur die mit Süßigkeiten prall gefüllten Schultüten fehlen; sie sind in Russland unbekannt. Dafür haben die Schülerinnen und Schüler Sträuße mit Blumen dabei - für ihre Lehrerinnen und Lehrer. Im Zentrum steht das erste Läuten am ersten Schultag, das traditionell eine Erstklässlerin übernimmt. Eine große Glocke mit langem Stil schwingt sie stolz und ohne Unterlass. Die Begrüßungsfeier endet damit, dass jeder Elftklässler einen Schulanfänger bei der Hand nimmt und ihn zu seinem neuen Klassenzimmer geleitet. Dazu muss man wissen, dass das russische Bildungssystem das Abitur nach der elften Klasse vorsieht. Die Grundschule dauert wie in Deutschland vier Jahre; danach werden alle Schüler gemeinsam bis zur neunten Klasse unterrichtet. Der Abschluss nach dieser Klasse ist mit der Mittleren Reife vergleichbar. Danach geht es in zwei Jahren zum Abitur. Abitur mit 17 Jahren ist die Norm. Einen Hauptschul- oder Mittelschulabschuss wie in Bayern kennt man in Russland nicht.

Im Gymnasium Nummer 16 nehmen 1180 Schüler und 66 Lehrer das neue Schuljahr in Angriff. Nun wird sich auch heausstellen, ob alle fleißig ihre Arbeiten, die ihnen über die Ferien aufgegeben wurden, gemacht haben. Denn ganz lernfrei sind die Sommerferien, die sich über die Monate Juni, Juli und August erstrecken, nicht. Darüber hinaus sind die Kinder in den Ferien sehr beschäftigt: Es gibt ein reichhaltiges Sport- und Kulturprogramm, Zeltlager, Wettkämpfe und es gilt, Literatur zu lesen.

Das Gymnasium Nummer 16 ist eine Gesamtschule, die unter ihrem Dach eine vierstufige Grundschule, eine Realschule und eben Gymnasialklassen beherbergt.

Der Unterschied zu einer bayerischen Schule wird schon am Eingang deutlich: Ein Wachdienst sichert das Gebäude ab. Über Monitore haben die Männer das Geschehen im Blickfeld - die Klassenzimmer allerdings nicht, nur die Korridore - 24 Stunden am Tag. Ein Fremder muss sich mit seinem Pass ausweisen oder er bekommt keinen Zutritt. Die Daten werden in einem eigenen Buch erfasst.

Der Unterricht beginnt um 8 Uhr - für einen Teil der Schüler. Der andere ist erst am Nachmittag dran, denn für fast 1200 Schüler reichen die Räume nicht aus. Dabei ist die Schule vor Kurzem renoviert worden und präsentiert sich wie aus dem Ei gepellt. Eine Unterrichtsstunde dauert wie bei uns 45 Minuten. Für Gymnasiasten gilt die Sechs-Tages-Woche. Dafür machen sie ihr Abitur, wie schon erwähnt, am Ende der 11. Klasse.

Ganztagesklassen im eigentlichen Sinn sind im Gymnasium Nr. 16 nicht vorgesehen. Dafür gibt es Clubs für Sport, Theater oder Gesang und auch eine eigene Schülerzeitung erscheint regelmäßig. In den Räumen des Gymnasiums werden darüber hinaus verschiedene Kurse angeboten: Gymnastik zum Beispiel oder Teakwondo. Viele Kinder und Jugendliche besuchen zusätzlich eine eigene Sport-, Musik- oder eine der unterschiedlichen Kunstschulen. Dort ist der Unterricht sehr preiswert; manche Schulen (zum Beispiel staatliche Sportschulen) sind sogar kostenlos. Kaum ein Kind oder ein Jugendlicher bleibt nach dem Unterricht unbeschäftigt.

Großen Wert wird auf das Schulessen an. Die Eltern laden eine Guthabenkarte auf und ihr Kind kann sich davon bedienen. Einmal pro Woche ist das Essen kostenfrei - für Gymnasisasten immer samstags. Jeden Tag wird in der Schulkantine frisch gekocht und die Kinder loben das Essen. Auch die Kantine ist frisch renoviert. Auf Sauberkeit wird sehr geachtet. Vor dem Eingang befinden sich Waschbecken. Nur mit sauberen Händen dürfen die Schüler Platz nehmen.

Die unteren Klassen marschieren unter der Aufsicht eines Lehrers geschlossen zu den Tischen, auf denen die Speisen bereits auf sie warten. Die älteren Schüler gehen natürlich individuell und manchmal auch öfter. Die Vorstellung, dass Kinder ihr Pausenbrot verzehren, während sie auf dem Pausenhof hin und her rennen, bei uns gang und gebe, löst in Russland nur ungläubiges Kopfschütteln aus.

Russische Eltern kämen auch nicht mit dem deutschen Sexualkundeunterricht zurecht. Er ginge ihnen viel zu weit und setzt ihrer Meinung viel zu früh ein. Eine zu intensive und vor allem zu frühe Beschäftigung mit der Welt der Sexualität, so die vorherrschende Meinung unter den Völkern der Russischen Föderation, zu denen auch islamisch geprägte Kulturen gehören, hätten in der Kinderwelt nichts verloren. Aber natürlich wissen auch russische Jugendliche, wie menschliches Leben entsteht.

Neben den Klassenzimmern und Fachräumen gibt es zwei Einrichtungen, die die Schüler ebenfalls häufig aufsuchen. Das eine ist die Bibliothek, die von Rita Misakowna geleitet wird. Geöffnet ist die gefällig eingerichtete Bibliothek täglich von 8 bis 16 Uhr; samstags und sonntags bleibt sie geschlossen. Hier findet sich die nötige wissenschaftliche Literatur für Hausarbeiten und Vorträge, ferner Lektüre, russische und ausländische Klassiker. Alles zusammen stehen rund 25.000 Bände in den Regalen; ständig wird zugekauft. Zeitschriften und Neue Medien ergänzen das Angebot. Schüler, die Zuhause keinen PC haben, können hier arbeiten. Ein Filter sorgt dafür, dass sie nur in den für sie geeigneten Bereichen surfen.

In Russland herrscht Lernmittelfreiheit, was den Staat neuerdings vor besondere Aufgaben stellt, denn Experten beklagten sich über zu schwere Schultaschen. Also bekommen die Schüler neuerdings statt einem Lehrbuch, sagen wir für Russisch, deren drei, von denen jedes einzelne natürlich dünner und leichter ist. Auch die Einbände sind inzwischen aus dünnem flexiblen Material.

Ein weiterer wichtiger Bereich der Schule ist dem Museum vorbehalten, das sich mit dem "Großen Vaterländischen Krieg" von 1941 bis 1945 beschäftigt und das mit viel Fleiß und Hingabe betrieben wird, wie Elena Romanowna berichtet. Fotografien, Briefe, Urkunden, Auszeichnungen und Gegenstände aus dem Zweiten Weltkrieg sind säuberlich in Vitrinen geordnet oder auf Tafeln aufgezogen. Gleich beim Eingang findet sich eine Replik der sowjetischen Fahne, die Rotarmisten 1945 auf dem Reichstag in Berlin gehisst hatten. Ein Zertifikat der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPFR) bestätigt die originalgetreue Nachbildung. An einer Wand sind die Fotografien von Kriegsteilnehmern ausgestellt. Veteranen kommen regelmäßig in die Schule. Als Zeitzeugen berichten sie von ihren Erlebnissen und von den Schrecken des Krieges. Die Beziehung zwischen Schule und Veteranen geht aber noch tiefer. Schüler besuchen die alten Herrschaften, helfen ihnen im Garten, gehen für sie einkaufen oder schauen auch nur mal auf eine Tasse Tee und ein Gespräch vorbei. Auch das Museum betreiben Schüler. Traditionell sind die Siebtklässler dafür zuständig. Sie machen interne Führungen und betreuen auch externe Gäste. Sogar Führungen in deutscher Sprache sind geplant. An der Schule werden zwei Fremdsprachen gelehrt: Deutsch und Englisch.

Das Museum gibt es bereits seit vielen Jahren; im vorigen Schuljahr wurde es anlässlich des Jubiläums - 70. Jahrestag des Sieges über den Faschismus - ergänzt. Die beleuchteten Vitrinen und Schautafeln genügen professionellen Ansprüchen; für ihre Finanzierung gab es Sponsoren. Viele ehemalige Absolventen bleiben ihrer Schule verbunden, nicht nur ideell. So sind mehrere frühere Schüler heute Abgeordnete und gewähren Unterstützung.

Ein Augenmerk gilt auch dem Aspekt der „grünen Schule“. Viele Pflanzen lockern die Flure und Räume auf. Auch ein großer gepflegter Garten ist vorhanden.

Ein Unterrichtsfach, auf das der russische Staat Wert legt, fehlt selbstverständlich im deutschen Stundenplan: Wehrkunde. Die genaue Bezeichnung lautet: Grundlagen für sicheres Leben. Die Kinder werden aktiv darauf vorbereitet, im Fall des Falles ihre Heimat zu verteidigen - und werden dabei auch an der Waffe ausgebildet. Das war schon zu Zeiten der Sowjetunion so und wurde, wie vieles aus der untergegangenen UdSSR, in Russland beibehalten. Liebe zur Heimat und Stolz auf sein Land ist ein wünschenswertes Ausbildungsziel.

Disziplin und ordentliches Betragen werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Da ziehen Schule und Elternhaus an einem Strang. Es gibt bestimmte Sanktionen, beispielsweise können renitente Schüler samt ihren Eltern zur Disziplinkonferenz der Schule vorgeladen werden. Wenn gar nichts hilft, müssen Eltern und Schüler zur Minderjährigenkommission der Verwaltung des jeweiligen Stadtteils. Eine Schande für die gesamte Familie. Aber so weit kommt es fast nie. Meistens reicht ein Tadel im Tagebuch des Schülers. Körperliche Züchtigung durch die Lehrer dagegen ist strengstens untersagt.

Außergewöhnliche Leistungen werden herausgehoben. Die Absolventen, die eine besondere Karriere gemacht oder etwas Besonderes geleistet haben, sind gleich am Eingang auf Ehrentafeln verewigt. Die Schule ist stolz auf sie und bezieht ein Gutteil ihres Renommees daraus. Regelmäßig gibt es Wettbewerbe, und wer erfolgreich ist, darf sicher sein, dass sein Name und sein Bild auf dem Hauptkorridor der Schule auftaucht. Und selbstverständlich auf der Homepage der Schule.

Die Schule selbst organisiert ein Humorfestival, bei dem jeder einen Beitrag von einer Minute beisteuern darf. Eine außergewöhnliche Veranstaltung, die, wie alle anderen, Elvira Romanovna organisiert, ist ein Festival der verschiedenen Völker, „Ethnischer Regenbogen" genannt. Sotschi ist eine multikulturelle Stadt, in der sich rund 140 verschiedene Volksgruppen tummeln. Beim „Regenbogen" bekommen jeweils Schüler der dritten und achten Klassen die gemeinsame Aufgabe, ein Volk darzustellen: mit einem Vortrag, einem Konzert, einem Bühnenstück, einen Film und Erzählungen. Dafür gibt es Punkte, Urkunden - und als süße Belohnung Apfelkuchen.

In den langen Ferien über haben die Kinder und Jugendlichen Gelegenheit gehabt, sich Gedanken über die neue Schuluniform zu machen. Die gab es traditionell in der UdSSR, heute gehen viele Schulen zu dieser Tradition zurück. Sie ist aber gerade bei Älteren nicht mehr sonderlich beliebt. Das Gymnasium Nr. 16 will daher nicht zu streng sein und für die höheren Klassen nur noch einen dunklen Rock beziehungsweise eine dunkle Hose und ein weißes beziehungsweise helles Hemd vorschreiben. Muster am Schuleingang zeigen, wie das aussehen könnte, wo man die Kleidung kaufen kann und was sie kostet. Viele Modelle tragen übrigens deutsche Namen wie „Berchtesgaden“, und beim Outfit wird auf eine gewisse Eleganz geachtet. Bauchfreie Kleidung, extrem kurze Röcke oder Shorts sowie tief hängende Hüfthosen sind nicht erlaubt.

Jenseits dieser Diskussion konzentrieren sich alle auf das neue Schuljahr. Die Neunt- und Elftklässler besonders. Beide machen ihre Abschlussprüfungen. Das Glöckchen wird in diesem Schuljahr nämlich nochmals gebraucht - für die, die die Schule verlassen, wird es Ende Mai ein letztes Mal erklingen.

Auch wenn es bis dahin noch Zeit ist - die Schüler kennen das Prozedere vom vorigen Mal. Der Hof der Schule ist schön geschmückt. Reihen von Luftballons sind aufgehängt. Der Vizegouverneur von Krasnodar ist angereist, auch ein Abgeordneter des Kreises Krasnodar und ein Abgeordneter der Stadt Sotschi, selbst Absolventen des Gymnasiums Nr. 16, hat einen Auftritt. Die Reden sind kurz und knackig. Eine kurze Ansprache hält die Rektorin Manana Leonidowna Peschkowa und auch ihre Vorgängerin Zoja Fadeewna Strelkowa spricht einige Worte. Sie war insgesamt 40 Jahre an dieser Schule beschäftigt, viele Jahre davon als Leiterin. Viele Kinder und die Eltern kennen sie noch und freuen sich über ihr Kommen: Die langjährige Rektorin war - und ist - beliebt. Durch das Programm führen die Schüler selbst. Und jeder trägt das berühmte Glöckchen, in kleiner Ausführung. Es ist an einer Schärpe angebracht, die jeden Abschlussschüler kennzeichnet. Die Feier beginnt mit der russischen Hymne. Die Schüler selbst haben das Programm ausgearbeitet und bestreiten einen großen Teil davon auch selbst, mit Liedern, Gedichten und kurzen Ansprachen. Luftballons steigen auf.

Auch die Lehrer sind eingebunden. Eine längerer Sketch in der schuleigenen Theaterhalle spielt am „Zarenhof“. Zarin ist die Schulleiterin, Manana Peschkowa, selbst. Die Lehrkräfte sind mit viel Liebe, aber auch mit einer Portion Selbstironie bei der Sache. Sie fertigten zudem humoristische Gedichte über ihre Schüler an und tragen sie jetzt vor.

Auch die enge Beziehung zwischen Lehrern, Schülern und Eltern kommt zum Ausdruck. In der Regel begleiten die Lehrer eine Klasse nach der Grundschule durch die gesamte weitere Schullaufbahn. Zum Abschied und als Dankeschön überreichen die Schüler den Pädagogen feierlich Geschenke. Die Köche und Leibwächter werden nicht vergessen. Dabei fließt manche Träne. Die Kinder bedanken sich bei den Lehrern und bei den Eltern. Auch zum Tanz werden Mutter und Vater geholt. Veteranen sind gekommen und werden von den Schülern liebevoll umsorgt. Mit Klassen- und Gruppenfotos geht die Abschiedsfeier zu Ende; die Prüfungen aber beginnen jetzt erst. Die Ergebnisse werden öffentlich ausgehängt. Jeder kann sie einsehen. Das soll die Prüflinge zusätzlich anspornen. Und dann gehen die jungen Leute weiter auf ihren Weg. Manche werden vielleicht an die Schule zurückkommen. Zehn Lehrerinnen und Lehrer sind selbst Absolventen des Gymnasiums Nr. 16 - so wie die jetzige Vizerektorin Elena Bylowa.