Schuld, Rache und Gerechtigkeit

01.10.2008 | Stand 03.12.2020, 5:33 Uhr

Als Agamemnon in der "Orestie": Nik Neureiter. - Foto: Pöhlmann

Ingolstadt (DK) Theaterintendant Peter Rein vergleicht die Bauarbeiten am Ingolstädter Theater gern mit archäologischen Ausgrabungen, weil keine genauen Baupläne vorhanden sind und so die Suche nach elektrischen Leitungen zum zeit- und geldraubenden Abenteuer wird. Nur Spötter würden jetzt mutmaßen, dass die "Ausgrabung" der 458 v. Chr. uraufgeführten "Orestie" des Aischylos da perfekt ins Konzept passt.

Die Baustelle, so Neumann, war dabei das kleinste seiner Probleme, zumal man von Theaterseite sehr bemüht gewesen wäre, die Belastung der Probensituation gering zu halten. "Wir hatten schon über die Idee nachgedacht, Agamemnon mit einem Hilti-Schlagbohrer auftreten zu lassen, sind dann aber davon wieder abgekommen", witzelt Neumann. Für die Schauspielerkollegen und die anderen Theatermitarbeiter, deren Räume teilweise in Container ausgelagert wurden, sei die Situation schwieriger; schließlich arbeite man in einem "total entbeinten" Haus bei zum Teil kalten Garderoben. Dabei ist die "Orestie" in den Bergsteigerjargon versetzt für ein Theaterensemble "Hochalpinismus, Todeszone, Nanga Parbat – einer der Berge, von denen man nicht immer zurückkommt".

Die dreiteilige "Orestie" umfasst den Zeitraum zwischen dem Fall Trojas und der Rückkehr Agamemnons mit allen daraus resultierenden Kämpfen und Ereignissen bis hin zur Entsühnung seines Sohnes Orestes. Für Neumann treten zwei Aspekte besonders hervor: Die schuldhafte Verstrickung der Handelnden einerseits und die – in der Antike neu entstehende – Sichtweise des Menschen als eigenverantwortlichen Entscheidungsträger. Für dieses komplexe Stück arbeitet man in Ingolstadt mit großem Aufwand – so wirkt unter anderem auch ein eigens engagierter Chor aus Laiendarstellern und Solisten aller Altersklassen mit.

Bei einem Werk dieser Gewichtung fällt schon bei der Auswahl der Fassung eine Grundsatzentscheidung: Das gesamte griechischsprachige, etwa neun Stunden füllende Material könne man im Stadttheaterumfeld ohnehin nicht geben, also muss man eine Übersetzung (die des Regisseurs Peter Stein) und eine Strichfassung auswählen, die Schwerpunkte setzt.

Neumann hat sich entschlossen, möglichst schnörkellos die "Geschichte" zu erzählen und weniger den Mythos zu bedienen. Für ihn gibt es einen "Kriminalfall Orest" und er stellt sich die zentrale Frage: "Wird Klytaimnestra eigentlich Gerechtigkeit zuteil" Dabei soll aber die Dimension der großen, mythischen und archetypischen Figuren nicht aufgegeben werden, die Regie wählt nicht den Weg der plumpen Aktualisierung.

Hierzu verständigte sich Neumann mit Ausstatterin Dorit Lievenbrück auf einen hohen Grad der Abstraktion; die Bühne ermöglicht einen Perspektivwechsel in drei Feldern. Neumann spricht von einem "Triptychon in schlichter Eleganz". Mittels Projektionen wird die Bühne noch komplexer und abwechslungsreicher gestaltet, so dass die Ebene der Götter sich tatsächlich von der menschlichen Wirklichkeit abgrenzt. Die eigens komponierte, atmosphärische Musik von Andreas Dziuk soll hierbei unterstützend und mit Leitmotiven Akzente setzen.

Ziel des Regieteams ist, den geschichtsträchtigen Mythos so zu erzählen, dass man getrost ohne großes Vorwissen und Altphilologentum ins Theater gehen kann (auch wenn es vor jedem Abend Werkeinführungen im Foyer geben wird). Aber dem Befremden durch diesen Stoff, die historische Distanz zu dem Jahrtausende alten Theater an der Wiege der Demokratie will Neumann durchaus gewahrt wissen. "Der Fremdheit Raum zu geben" hat er sich vorgenommen – und ist selbst gespannt, wie das Resultat seiner theatralen Extrembergsteigertruppe beim Ingolstädter Theaterpublikum aufgenommen wird.

 

Premiere ist am Freitag, 3. Oktober, um 19 Uhr im Großen Haus.