Ingolstadt
Schubert in ungewohntem Ambiente

10.01.2011 | Stand 03.12.2020, 3:16 Uhr

Ein Drama in Liedern: Ruth Liebscher begleitet vom Pianisten Jürgen Plich in der Dürnitz im Neuen Schloss. - Foto: Strisch

Ingolstadt (DK) Tief hängt das Gewölbe über dem Flügel, hinter dem Pianisten wachen starr und schwarz stählerne Rüstungen, allerlei Tötungsgerät ziert den Saal. Ein ungewohntes Ambiente für ein klassisches Liederkonzert, aber für Franz Schuberts "Zyklus schauriger Lieder" durchaus ein atmosphärisch passender Rahmen.

Für den Ingolstädter Konzertverein war es die Premiere in der Dürnitz im Neuen Schloss, auf dem Programm stand die "Winterreise" mit Jürgen Plich am Klavier und der aus Ingolstadt gebürtigen Sopranistin Ruth Liebscher.

Genau darin lag auch die Besonderheit dieses Sonderkonzerts, denn von Frauen wird die Geschichte des enttäuschten und verzweifelten Liebenden, vom Text her eine Männergeschichte, selten interpretiert. Es kann ja auch etwas komisch klingen, wenn sie vom "fein Liebchen" singen. Wenn aber die Interpretation stimmig ist, spielt derlei keine Rolle mehr, es geht schließlich um eine Situation, die Jeden treffen kann.

Liebeskummer wäre ein Euphemismus, der Verlust der Liebe führt das lyrische Ich vielmehr auf einen psychischen Grenzgang am Rande des Todes. Und genau diesen Aspekt wissen die beiden sehr eindringlich zu vermitteln.

Ruth Liebscher verfügt über eine kräftige, in allen Lagen klar fokussierte Stimme, perfektes Sprachverständnis und eine sehr flexible Artikulation. Sie ist so präsent, dass sich Plich am Klavier nicht zurückhalten muss und der Begleitung einen großen Ton geben kann, die Bilder sehr scharf und plastisch herausarbeitet, die abgründigen Modulationen Zwischentöne, Moll-Dur-Wechsel voll auskostet. Der "Lindenbaum" etwa verströmt im Mittelteil unsägliche Traurigkeit, die Rückkehr ins Dur aber empfindet man bloß als klanggewordenen Konjunktiv: "Du fändest Ruhe dort" – keine Lösung.

Frau Liebscher setzt ihre wandlungsfähige Stimme sehr detailliert in den Dienst der Textvertonung. Ihr expressives Spektrum, zwischen fahler, schauriger Deklamation und mächtigem Schmerzenslaut, ist weit, und sie schöpft es bisweilen auf engstem Raum aus. Zum Beispiel "Auf dem Flusse", wo sich die Tonart von e- nach gis-Moll verirrt, plötzlicher Schrecken in schneidender Intensität. Man versteht, warum Schuberts Zeitgenossen von diesem Zyklus schockiert waren.

Liebscher wählt keine lyrische Perspektive, sondern verkörpert geradezu dramatisch die erlebende Person. Das innere Geschehen rückt ins Hier und Jetzt. Der Winterreisende erscheint dabei keineswegs sentimental, sondern, bei aller Verzweiflung und Gebrochenheit, als eine starke und reflektierende Persönlichkeit. Die vielen Details und Ausdruckswechsel sind deshalb keineswegs gekünstelt, sondern Facetten dieses vielschichtigen und faszinierendes Rollenporträts. Damit wird auch der gebannten Zuhörer unvermittelt ins Geschehen gezogen, die scharfen Kontraste zwischen Erinnerung und Gegenwart, schönem Traum und harter Realität, Erregung und Erschöpfung werden geradezu physisch spürbar. Bis zum Schluss wird eine enorme Spannung gehalten. Wenn schneidend im Sopran die letzten und für den ganzen Zyklus bedeutsamen Töne e und f ertönen, ist sie noch nicht gelöst. Man fühlt sich, als hätte man das Seelendrama selbst durchlebt – eine fast kathartische Wirkung.

Erst der lange Applaus für die grandiose Interpretation nimmt die Spannung heraus. Der "Lindenbaum", die Zugabe, klingt nun auch ganz anders, der Konjunktiv als Trost oder Versprechen.