Knapp
Schottlands Jahrhundert-Abstimmung

17.09.2014 | Stand 08.08.2018, 9:51 Uhr

Knapp 4,4 Millionen Wahlberechtigte können heute über die Unabhängigkeit ihres Landes entscheiden
Das Referendum und seine Folgen – Blick auf eine Nation zwischen Hoffen und Bangen

Heute ist D-Day. D wie Decision, nicht wie Donnerstag. Tag der Entscheidung. Der Brite spricht im Alltag gerne militärisch. D-Day wie damals, am 6. Juni 1944, als die alliierten Truppen in der Normandie landeten, um deutschen Naziterror zu beenden. Das ist längst Geschichte, die aktuelle Schlacht findet im eigenen Land statt: Die Schotten stimmen heute ab 7 Uhr über ihren Austritt aus dem Vereinigten Königreich ab. Ein Referendum mit weitreichenden Folgen. Werden die Bravehearts zur eigenen Nation mit allen Konsequenzen? Seit Monaten dreht sich alles im Land fast nur noch um dieses eine zentrale Thema. Fernsehsendungen und Zeitungen sind voll damit. Egal wie es ausgeht, es werden Wunden bleiben.

Nicht ohne Grund setzte die Regierung in London zuletzt alles daran, die Abtrünnigen zum Verbleib im Verbund zu überreden. Einst waren die Briten eine Weltmacht, die führende Industrienation. Was ist übrig davon und vom früheren Empire? Mit Europa wollte der Engländer sich nie so recht anfreunden, frei nach dem Motto „Wasch’ mich, aber mach’ mich nicht nass.“ Nun droht weiterer Machtverlust, sollten die Schotten sich loslösen. Kurz vor Torschluss eilte Premierminister David Cameron in den hohen Norden, um zu retten, was zu retten ist. Mit Zuckerbrot und Peitsche gleichermaßen. „Bitte, bitte bleibt bei uns“, flehte er, um gleichzeitig deutlich zu machen, dass andernfalls die Tür für immer zufällt: Die Entscheidung sei unwiderruflich, es gebe nach einem Austritt kein Zurück. Immerhin: Nun weiß er, wie die Europäer sich mit dem von ihm geplanten EU-Referendum fühlen.

Die Angststrategie Camerons spielt den Befürwortern der Unabhängigkeit nur in die Hände. Viele Leute vor allem im Norden der Insel haben die Nase voll von Arroganz und Drohgebärden, sind angewidert vom Vereinigten Königreich der Eliten, das die Reichen immer noch reicher macht, wie sie argumentieren. Die Botschaft an die Regierung, an diese Besserwisser in Westminster, so heißt es oft, lautet unmissverständlich: Wir wollen nicht mehr eurer Willkür ausgeliefert sein, eurer Politik, die sich vornehmlich ausrichtet am Großraum London, an arabischen Oligarchen und russischen Investoren, und uns hintan stehen lässt. London, dieser Trichter, in den alles zu fließen scheint wie in einen Staat innerhalb des Staates, wo das Leben teuer und Immobilien unbezahlbar sind, sagen Regierungsgegner. Erst kommt die Hauptstadt, dann mit weitem Abstand der Rest des Landes. Quo vadis, Britannia, fragt nicht nur der Schotte.

Harry Reed (56) ist in Edinburgh aufgewachsen, er lebt seit 1998 in Ingolstadt. Ein kritischer Beobachter der Politik auf der Insel. Seit den Terroranschlägen von 2001 gehe es stetig bergab, die Bürger würden überwacht und bespitzelt, sagt er. „Früher habe ich nie national gedacht. Aber was in unserem Namen passiert, ist unglaublich. Wir führen Kriege in Afghanistan und Irak, wir töten viele unschuldige Menschen. Die Schotten wollen das nicht, sind aber dafür mitverantwortlich. Schon allein deshalb gibt es für mich keine Alternative zur Unabhängigkeit“, sagt Reed. „Das Regionalparlament in Edinburgh macht ohnehin schon alles, bis auf die Steuern und die Verteidigung. Warum soll es also nicht gleich unser komplettes Land regieren“ Das klingt so einfach, obwohl viele Fragen bislang offenbleiben. Reed ist sich dessen bewusst und glaubt dennoch, dass es funktioniert.

Was wäre wenn? Etwa mit der Währung, bleibt das Pfund? Oder mit der Grenzüberwachung, dem Bildungssystem, dem Gesundheitswesen, der Mitgliedschaft bei Nato und EU und, und, und? Es sind Dinge, die nicht wenigen Schotten Angst machen. Zumal die heimische Industrie überwiegend für England produziert. „Ich bin mir nicht sicher, ob das alles wohlüberlegt ist“, sagt etwa Gillian Low aus dem schottischen Kirkcaldy. „Unabhängigkeit, das wäre sicher schön – aber überleben wir das? Es ist eine Furcht einflößende Entscheidung. Ich möchte schon, dass meine Kinder in diesem Land weiter gut leben können.“ Trotz ihrer Unsicherheit steht das anfängliche Nein der 60-Jährigen zur Loslösung gerade auf dem Prüfstand.

„Das Referendum bringt uns viele Chancen, aber natürlich auch ungelöste Probleme“, meint Robert Main, früher bei der Polizei in der schottischen Region Fife zuständig für die Finanzen. Ein nüchterner Rechner also. „Natürlich lässt sich vieles nicht sofort beantworten, aber das Leben wird nicht gleich kollabieren, falls die Selbstständigkeit kommt“, gibt er sich überzeugt. „Es bleiben dann noch 18 Monate und damit genug Zeit zur Klärung, bis die Unabhängigkeit im März 2016 in Kraft tritt. Die Leute werden bis dahin weiter ihre Gehälter und Renten kriegen“, prophezeit er.

Leslie Soper (64) stammt aus der Oxforder Gegend und lebt mit seiner schottischen Frau Alice seit vielen Jahren im Land der Lochs. „Ich bin bestürzt, dass es überhaupt ein solches Referendum gibt. Warum etwas ändern, das funktioniert? Wenn es an kleinen Dingen fehlt, gibt es Wahlen, um das zu korrigieren“, sagt der frühere Soldat. „Als Engländer habe ich in einer schottischen Einheit Dienst geleistet, das war kein Problem für mich. Ich habe mich immer als Brite gefühlt. Das Ganze ist nur eine riesige Geldverschwendung.“

Ja hier, Nein dort – nur einige Stimmen zur Spaltung der Nation am heutigen Tag der Entscheidung. Die Wahlbeteiligung wird hoch sein, manche prognostizieren bis zu 88 Prozent. Alex Salmond von der linksliberalen Scottish National Party kann als Initiator des Referendums zufrieden sein. Eine deutliche Mehrheit der Schotten hatte sich anfangs gegen eine Unabhängigkeit ausgesprochen, inzwischen liegen die Stimmen bei Für und Wider gleichauf. „Wir können wählen, was das Beste für uns ist“, heißt es blumig in einem Werbespot der Partei – und das kann nur die Loslösung sein. Die Regierung in London hält dagegen: Schottland werde nur profitieren, wenn es in der Union bleibt, lautet der Tenor. Ex-Premierminister Gordon Brown, selbst Schotte, sieht die Zukunft Schottlands „bei allem Stolz auf Geschichte und Kultur“ ebenfalls nur innerhalb der Union gesichert, wie es aus seinem Büro heißt. Westminister verspricht derweil noch mehr Autonomie im Verbund.

Ein Schuss, der nach hinten losgehen kann. In anderen Landstrichen regt sich bereits Unmut ob der vielen Zugeständnisse, etwa im von Arbeitersiedlungen geprägten Norden Englands, der den elitären Süden seit jeher distanziert betrachtet. „Am besten die Schotten nehmen mein Nordengland gleich mit in die Unabhängigkeit“, sagt Helen Strong (45); sie stammt aus Blyth bei Newcastle. Droht das schottische Virus zum Flächenbrand zu werden? Nicht ausgeschlossen, glaubt der Exil-Schotte Harry Reed: „Meine Hoffnung ist ja, dass die Engländer endlich auch gegen Westminster rebellieren, wenn sie sehen, dass es mit unserer Selbstständigkeit klappt.“