Ingolstadt
Schnitzelliebe

Pures Theaterglück: "36 Stunden" im Ingolstädter Altstadttheater

18.03.2022 | Stand 23.09.2023, 0:17 Uhr
Virtuoses Spiel: Pia Kolb und Max Pfnür sind Agnes und Eugen in Ödön von Horváths Tragikomödie "36 Stunden". −Foto: Gilsdorf

Ingolstadt - Eine linke Hand auf einem linken Knie. Was das wohl wird? Es ist Eugens Hand und Agnes' Knie. Und während ihr Kopf noch denkt, welche Reaktion die passendere wäre - Zurechtweisung oder Hingabe -, ist ihr Herz schon weitergesprungen, küssen ihre Lippen schon Eugens Lippen, haben sich die Körper schon gefunden. Unter dieser Ulme. Auf dem Oberwiesenfeld. An diesem Dienstag im Sommer des Jahres 1928.

Vor der Arbeitsvermittlung haben sie sich kennengelernt. Der Herr Reithofer und das Fräulein Pollinger. Er Kellner aus Österreich, Sie Näherin aus der Oberpfalz. Beide ohne Anstellung. Denn die Verhältnisse, die sind nun mal nicht so. Es herrscht Weltwirtschaftskrise. Auch in München. Und so bleibt den beiden jungen Leuten zum Kennenlernen nur ein Zeitvertreib ohne Geld: Spazieren gehen. Sie gehen, schauen, erzählen. Woher sie kommen. Wovon sie träumen. Nach 36 Stunden trennen sie sich. Mit einem warmen Gefühl im Bauch, einem wolkigen im Kopf und einem Versprechen: Morgen um sechs an der Ecke Schleißheimerstraße.

"Sechsunddreißig Stunden" hat Ödön von Horváth seinen Roman genannt, den er 1928 schrieb (als Sozialdrama und Satire) und dann doch nicht veröffentlichte, sondern ihn für den "Ewigen Spießer" plünderte. 36 Stunden dauert die erzählte Zeit, in der Agnes durch das Nachkriegs-München läuft. Mal mit, mal ohne Begleitung. Kurz wird sie im Cabrio gefahren. Aber das ist eher ein Problem. Denn so wie sie vorher Eugen versetzt hat - eines Schnitzels mit Gurkensalat und eines Ausflugs an den Starnberger See wegen -, wird sie von Harry ausgesetzt. Und muss zu Fuß nach München zurückmarschieren. Dort, vor dem Haus ihrer Tante, wartet Eugen auf sie. Mit einem Jobangebot. Ein Wunder!

Ein Wunder ist auch diese Theaterproduktion von "36 Stunden", mit der Max Pfnür und Pia Kolb im Altstadttheater zu Gast sind. Nicht mal 90 Minuten dauern ihre 36 Stunden voller Theaterglück, in denen sie Horváths Tragikomödie in seiner herzzerreißend schönen Kunstsprache zelebrieren und sein skurriles Figurentableau aufblättern. Da sind zunächst mal Eugen und Agnes. Er: ein liebenswürdiger Draufgänger. Sie: eine verwegene Abenteurerin. Pfnür und Kolb verkörpern ihre Figuren liebevoll, mit Ecken und Kanten, vielsagenden Blicken und irrwitzigen Ping-Pong-Dialogen. Immer wieder treten sie aus dem Spiel heraus - gleichsam neben ihre Figuren, sehen ihnen beim Denken, Sprechen, Handeln zu, geben treffsichere Analysen ab und verschmelzen wieder mit ihnen. Sie sind Schauspieler und Erzähler zugleich. Und schlüpfen auch in alle andere Figuren, denen Eugen oder Agnes begegnen. Max Pfnür ist der perfide Untermieter Kastner, sorgt als schwatzhaft-tuntiger Kunstmaler AML, der Agnes als Hetäre im Opiumrausch malen will, für Gelächter. Und ist im nächsten Moment der skrupellose Harry Priegler, der Eishockey-Spieler, der Agnes mit seinem Cabrio verführt und dann sitzen lässt.

Mit Präzision und Leichtigkeit führt Regisseur Georg Büttel seine beiden Darsteller. Alles ist hier Reduktion - von der klugen Textfassung bis zu Nadeshda Dirings blau-roter Bühnen-Farbästhetik samt Horváth'schem Schicksals-Ast. Trotzdem werden die Geschichten schillernd, lebendig und mit großer spielerischer Virtuosität erzählt. Das Oktoberfest! Der Abend im Kino! Das Liebesgeplänkel zwischen Eugen und Agnes, das wie in Spieldosen-Mechanik inszeniert wird! Das Schnitzelessen! Das ist mit Witz erdacht und hinreißend umgesetzt. Das Happy End? Wir Nachgeborenen wissen: Es ist von kurzer Dauer. Ein neuer Krieg kündigt sich an. Mit neuen Toten. Neuer Verzweiflung. Aber für einen Moment gibt es Glückseligkeit. Zwei Herzen im Takt. Und einen berührenden Theaterabend!

DK

Anja Witzke