München
Schnittwunden, Leberkäsvergiftungen und eine Geburt

Bei der BRK-Station auf dem Oktoberfestgelände geht es fast genau so zu wie in einem richtigen Krankenhaus

27.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:15 Uhr

Die Sanitäter rücken mit der "Banane" aus - so nennen sie die fahrbare Krankentrage mit Plane. - Foto: Paul

München (DK) Die Gesichtsfarbe des jungen Mannes liegt irgendwo zwischen Olivgrün und Käseweiß, das Hemd hängt verschmutzt und schwitzfleckig aus der Hose, er hat den Kopf schwer schnaufend in beide Hände gestützt und stiert mit leerem Blick auf den Fußboden. Seine Begleiterin läuft aufgeregt vor ihm auf und ab, spricht unablässig auf ihn ein - aber so recht bekommt er nichts mehr mit.

Die Sanitäter und Rettungsassistenten des Bayerischen Roten Kreuzes auf dem Münchner Oktoberfest um ihn herum bleiben aber gelassen: Hier ist nichts Schlimmes passiert, der junge Mann hat nur kräftig einen über den Durst getrunken, ihm ist speiübel. Später, nach dem Blutdruckmessen und dem EKG, gibt es dagegen eine Infusion mit einer Kochsalzlösung - und nach einer guten halben Stunde wankt der derangierte Galan am Arm seiner Begleiterin wieder aus der BRK-Station. Die Wiesn dürfte für beide jedoch heute vorbei sein.

Eine andere Patientin, die kurz zuvor und bereits liegend hereingeschoben wurde, wird wohl länger bleiben müssen. Hier sollte abgeklärt werden, ob zum Biergenuss von der Dame nicht auch noch Drogen konsumiert wurden - eine Kombination, die nicht nur zum Brummschädel am nächsten Morgen, sondern womöglich zu einem Herz-Kreislauf-Versagen führen kann. Platz beziehungsweise freie Betten gibt es zu diesem Zeitpunkt noch genügend auf dem 750 Quadratmeter großen BRK-Stützpunkt. Auch Personal zur Versorgung ist ausreichend vorhanden: Zeitgleich tun zwischen 80 und 110 ehrenamtliche Helfer Dienst - am Wochenende sind es noch mehr. Dazu kommen noch 15 bis 20 Ärzte - und sogar Medizinstudenten wie Franziska Kraft von der Münchner LMU. "Der Einsatz hier ist bei mir und meinen Kommilitonen total beliebt, man lernt in kürzester Zeit unglaublich viel. Ich habe mich bereits vor zwei Jahren für die diesjährige Wiesn beworben." Das Gehirn der BRK-Station schließlich ist Florian Nürnberger vor seinen Monitoren und Telefonen: Er koordiniert die Einsätze, nimmt die von der Rettungsleitstelle weitergeleiteten Notrufe entgegen. Quer übers Festgelände verteilt betreibt das BRK noch kleinere Außenstationen. Knapp 6500 Patienten gab es im vergangenen Jahr, 2014 waren es deutlich mehr, rund 7900. Außer den Besuchern kommen auch die Kellnerinnen und Fahrgeschäft-Mitarbeiter vorbei - schließlich stammen nur die wenigsten von ihnen aus München, viele schlafen die zwei Wochen vor Ort, und bei Husten, Fieber oder Schnupfen wäre der Weg zum Hausarzt doch lang.

"Die reinen Alkoholprobleme machen dagegen nur fünf bis zehn Prozent aus", berichtet BRK-Sprecher Michael Greiner. Hauptsächlich kämen Menschen mit Schnittverletzungen herein - jedoch beileibe nicht spektakulär nach Bierkrugschlägereien in Festzelten, wie man sich das vielleicht denkt, nein, "häufig sind es junge Mädchen, die in dünnen Ballerinas über die Wiesn laufen und dann in eine der vielen Glasscherben treten". Aber auch sonst ist alles dabei - natürlich auch mal was Schlimmes wie ein Schlaganfall, und vor zwei Jahren, erinnert sich Greiner, "da hatten wir sogar eine beginnende Geburt". Kurios waren auch die 15 Besucher, die sich alle beim gleichen Leberkäs-Händler eine Fleischvergiftung zugezogen hatten.

Und weiter geht's, schon rücken die Sanitäter im Laufschritt wieder aus mit ihrer "Banane" - so nennen sie die fahrbare Krankentrage unter dem regenfesten gelben Schutzumhang, der den Patienten nicht nur vorm Wetter, sondern auch vor neugierigen Blicken schützen soll: "Das junge Volk, einmal angeheitert, kennt ja heutzutage kein Erbarmen mehr - und zack bist du am nächsten Morgen im Handyfoto besoffen bei Facebook zu bewundern", meint eine altgediente BRKlerin. Heute Abend sind auch zehn Mitglieder des Kreisverbands Pfaffenhofen mit von der Partie.

Hoch oben am Himmel, der jetzt langsam vom satten Blau des Tages ins Violett der Dämmerung übergeht, tänzelt an einer Schnur ein großer weißer Luftballon mit rotem Kreuz im Wind. Man kann sagen, das dürfte - bei allem Stress der Betroffenen - ein Abend sein, mit dem Oberarzt Frithjof Wagner, der Medizinische Leiter an diesem Tag, zufrieden sein kann: Es passiert etwas, die BRKler haben zu tun, aber die Lage ist im Griff. Denn noch nie waberte über einem Münchner Oktoberfest ein so diffuses Gefühl der Angst: Wird etwas Schlimmes passieren, ein islamistischer Terroranschlag, womöglich gar mit Toten?

"Ich mach' das hier jetzt seit fast 30 Jahren", sagt Wagner, ein großer Mann, der Ruhe und Humor verbindet, was auch auf seine Mannschaft abstrahlt. An den übrigen 50 Wochen im Jahr arbeitet er übrigens als Unfallchirurg an der Klinik in Murnau am Staffelsee. "Ich war als Bub an dem Tag auf der Wiesn, als es 1980 den rechtsradikalen Anschlag mit mehreren Toten gab, damals bin ich mit Hunderten anderen vor Angst weggerannt. Es gibt, wie unser Herr Innenminister immer sagt, eben doch eine latente Gefährdungslage."