Ingolstadt
Schlupfloch für Solidarität

Von Wolfgang Weber

26.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:44 Uhr

„Not kennt kein Gebot“, sagt der Volksmund, aber dem widerspricht der Europäische Gerichtshof ganz entschieden: Das Dublin-Abkommen, das die Verantwortung für Flüchtlinge dem Land aufhalst, in dem sie die EU zuerst erreicht haben, gilt in jedem Fall. Selbst wenn dieses Land völlig überfordert ist und vor dem Kollaps steht. Das war 2015 in Kroatien so, als die Ausläufer der größten Massenbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg das Land erreichten.

Aber nach Ansicht der Luxemburger Richter rechtfertigt selbst eine existenzgefährdende Krise kein Abweichen von der einmal festgeschriebenen Vereinbarung.

Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2015 vor dem Europäischen Parlament erklärt: „Seien wir ehrlich, das Dublin-Verfahren ist obsolet.“ Aber mit Ehrlichkeit hatte dieses Verfahren nie sonderlich viel zu tun. Es sollte Hilfesuchende von Nord- und Mitteleuropa fernhalten, zulasten der weniger gut gestellten Staaten im Süden der EU. Deshalb war auch keinerlei Mechanismus für eine solidarische und faire Umverteilung von Flüchtlingen vorgesehen, sollte ein Land an der EU-Außengrenze einmal überfordert sein. Mit einem solchen Verfahren wären eine Million Flüchtlinge in einer EU mit ihren über 500 Millionen Bürgern kaum zu einer solchen Katastrophe geworden. Dass es ein Verteilungs-Prozedere nicht gab, kann als schwerer Geburtsfehler der Dublin-Regelung interpretiert werden oder aber auch als infamer Trick der Dublin-Profiteure, zu denen lange Zeit natürlich auch Deutschland gehörte.

Nur einen Ausweg gestattet das Dublin-Verfahren: dass nämlich ein Staat aus freien Stücken für einen anderen einspringt und ihm die Verpflichtung zur Bearbeitung von Asylanträgen abnimmt. Dafür entschied sich die Kanzlerin, als sie in einem humanitären Akt Syrienflüchtlinge ins Land ließ, die an der ungarischen Grenze gestrandet waren. AfD und CSU verurteilten das lautstark und heftig, CSU-Chef Horst Seehofer sprach sogar von einer „Herrschaft des Unrechts“, die Merkel zu verantworten habe. Solches Gerede hat der EuGH jetzt abschließend zurückgewiesen.

Menschlichkeit und Solidarität sind damit trotz des Dublin-Verfahrens nicht verboten. Auch wenn solche Werte in Europa nicht überall geteilt werden und auch nicht von Spitzenpolitikern einer deutschen Regierungspartei.