"Scharfsinnig und stur"

15.05.2009 | Stand 03.12.2020, 4:57 Uhr

Über "Hildegard von Bingen als Ärztin" referierte Prof. Konrad Benedikt Vollmann im gut besuchten Keller des Stadtmuseums. - Foto: Stengel

Neuburg (pes) Fast 900 Jahre nach ihrem Wirken sind ihre Erkenntnisse unter dem Stichwort "Hildegard-Medizin" präsent in Literatur wie Marketingbereich. Ein sehr emotionales wie facettenreiches Porträt der Benediktinerin Hildegard von Bingen (um 1098 bis 1179) zeichnete der Philologe Prof. Konrad Benedikt Vollmann aus Eichstätt am Donnerstag im Stadtmuseum als einer der Referenten im Vortragsprogramm der Ausstellung "Die Pflanzen der Klostermedizin in Darstellung und Anwendung".

"Geheimnisse der Natur: Hildegard von Bingen als Ärztin" umriss das medizinische Wirken der selbstbewussten und strebsamen Äbtissin und geriet dank Vollmanns leidenschaftlichem Vortrag zu einer aussagekräftigen Schilderung einer außergewöhnlichen Vita und zu einer verbalen Verbeugung vor dieser außergewöhnlichen Frau. "Scharfsinnig und subjektiv, hochintelligent und bildungshungrig, genial und stur, revolutionär und aufmüpfig" waren einige Prädikate, die er der Nonne verlieh, die durch ihre Studien auch das Rollenbild der Frauen ihrer Zeit gesprengt habe. Und erst recht ließ sie sich in kein Schema pressen.

Genaue Beobachterin

Im Gegensatz zu vielen Klostermedizinern des Hochmittelalters wollte die Ordensfrau mehr als die Schilderung von Symptom und Gegenmittel, "wollte den Dingen auf den Grund gehen". Den Weg zum Schatz ihrer Erkenntnisse skizzierte Vollmann als präzise abgestimmte Melange aus religiösen Motiven, ihren Visionen und akribischen Beobachtungen von Krankheiten. Dabei diagnostizierte sie zum Beispiel allein neun verschiedene Arten von Kopfschmerzen. Ihre Ergebnisse habe sie einem Helfer diktiert.

Sie habe die Natur als geheimnisvolles Werk Gottes gesehen. Und den Sündenfall als Ursache, weshalb der Mensch von diesem nur Bruchstücke durchschaue. Ordnung und Unordnung bestimmte aus Hildegards Sicht die Welt des Menschen und sein Befinden. Der Begriff "Sturm" wurde für sie zum Synonym für widrige Erscheinungen im Körper und in der Natur, für Mondfinsternis genauso wie "das Ungleichgewicht der Körpersäfte".

Mit großem Engagement betrieb sie den Einsatz von Edelsteinen in Verbindung mit religiösen Formeln. Ihr Ziel sei die partielle Rückgewinnung des paradiesischen Wissens gewesen, "das vom Geist Gottes kommt". Ihre Überzeugung sei gewesen, dass der Alltag geheime Zusammenhänge zum Schöpfungstag berge. Sonnenstand, Mondtage, Tageszeiten und Zahlen waren für die Äbtissin entscheidende Faktoren bei der Gewinnung und Anwendung ihrer Kräutermedizin. Ihre Anleitungen seien stets praxiserprobt gewesen. Und: "Viele ihrer Verfahren kosten mehr Zeit als sich die moderne Medizin leisten kann."

Kurzschlüssen erlegen

Womit Vollmann beim Wert der Forschungen Hildegards aus heutiger Sicht angelangt war: Zutiefst subjektiv und von ihren Erkenntnissen überzeugt, sei sie allerdings auch so manchem Kurzschluss erlegen. Etwa dem, dass Schweinefleisch "schleimig und giftig" sei, weil "das Tier Unreines frisst". Groß sei ihre Skepsis auch allen Lauchgewächsen gegenüber gewesen.

Als kolossal indes müsse ihre differenzierende Analyse und Behandlungsform eingestuft werden. Egal ob Intuition oder Erfahrung – ihr Verhältnis zu den Geheimnissen der Natur sei von einer besonderen Güteklasse gewesen. Und, wie der Referent augenzwinkernd in diskutierfreudiger Runde, darunter auch Johannes Gottfried Mayer von der Forschergruppe Klostermedizin der Uni Würzburg, anmerkte: "Schon Hildegard empfiehlt für die Gesundheit kräftigen Wein."

Zu ihrem Nachlass zählen die Beschreibungen von rund 100 verschiedenen Krankheitsbildern. Vollmann: "Sie war eine überragende Persönlichkeit als Visionärin, Denkerin und Ärztin. Als Medizinerin bleibt sie ein großes Vorbild."