Schrobenhausen
"Rennstrecke auf Gymnasium und Realschule"

Baustelle Schule (2): Josef Voigt im Gespräch über die Schwächen des Grundschulsystems

20.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:20 Uhr
Josef Voigt: Kreisverbandsvorsitzender des BLLV. −Foto: oh

Schrobenhausen (SZ) Generell sei die Konzentrationsfähigkeit von Kindern geringer geworden, bestätigt Josef Voigt, Kreisverbandsvorsitzender des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), dass auch er als Rektor der Berg im Gauer Grundschule ähnliche Erfahrungen gemacht hat, wie sie die jüngste Studie belegt. Infolgedessen werde der Erziehungsanteil im Unterricht immer größer, worunter natürlich der Lehranteil leide.

"Wenn wir jetzt Proben schreiben würden wie vor 20 Jahren - das wäre eine Katastrophe", ist Josef Voigt überzeugt. Vor allem an den sozio-emotionalen Grundlagen fehle es oft. "Und da muss man hinarbeiten." Übrigens ein Befund, den ihm Kollegen bayernweit bestätigten, versichert Josef Voigt.

 

Doch was antwortet er all jenen, die sich grundsätzlich am System stören, die sagen, es nehme beispielsweise keine Querdenker oder Spätentwickler mit? "Die Grundschule ist die Schulart, in der in dieser Richtung noch am allermeisten passiert", findet Voigt. Und: "Die Lehrmethoden, die wir anwenden, sind seit Jahren grade auf Individualisierung und selbstständiges Lernen ausgerichtet." Nicht mehr im Inhaltlichen liege der Schwerpunkt in den neuen Lehrplänen, "sondern man schaut: Weiß der Schüler das jetzt bloß - oder kann er auch etwas damit anfangen?" Der neue Lehrplan ziele auf Kompetenzorientierung ab, was eigentlich nur eine logische Fortsetzung dessen sei, was in der Grundschule seit vielen Jahren praktiziert werde.

Hört sich alles so an, als stünde Josef Voigt zu hundert Prozent hinter dem derzeitigen Grundschulsystem - hätte er die Möglichkeit, ein ganz neues Konzept zu entwickeln, würde er also gar nicht allzu viel verändern? Das will Josef Voigt dann doch nicht so stehenlassen. "Das ist eine ganz andere Sache", sagt er. Schließlich sei es eine systematische Frage, "wie man eine Schule überhaupt denkt und angeht." Solange die Grundschule auch als Selektionsinstrument für weiterführende Schulen herhalten müsse, brauche es Noten. "Und solange es Noten braucht, kommt man aus dem ganzen Dilemma nicht heraus." Ein seiner Meinung nach großer Fehler: die Einführung der sechsstufigen Realschule. Denn die habe den Übertrittsdruck "immens erhöht", ist Voigt überzeugt. "Da können sie als Lehrer noch so sehr versuchen, deeskalierend zu wirken, auch mit den Eltern, die spielen da sogar mit." Und auch unter den Kindern komme das hoch, "es lässt sich nicht vermeiden." Auch wenn immer die Rede vom durchlässigen Schulsystem sei - "die Grundschule ist zur Rennstrecke auf Gymnasium und Realschule geworden." Seinerzeit habe der BLLV eine Volksentscheidung herbeigeführt, kaum fünf Prozent der Bevölkerung hätten sich daran beteiligt.

Aber bedeutet das alles, dass beispielsweise Kreativitätsförderung, Sport oder Musisches heute total auf der Strecke bleibt? "Total auf der Strecke bleibt das nicht; wir versuchen schon, diese Bereiche zu bedienen, auch im Regelunterricht", beteuert Voigt. Darüber hinaus gebe es an seiner Grundschule beispielsweise eine "hochklassige Schulband" - ein "Alleinstellungsmerkmal im Landkreis". Auch seien in den Unterricht kleine Sportphasen integriert. "Man macht schon was, aber natürlich könnte man wesentlich mehr tun", findet Voigt. Woran es seiner Meinung nach hapert: zum einen am Lehrermangel. "Wir schwimmen ja praktisch auf der Kante, die Wartelisten sind leer geräumt und wir erleben in jedem Schuljahr Situationen, in denen das Schulamt nicht mehr helfen kann." Ein weiteres Problem: "Die Stunden für besonderen Unterricht, grade was das Musische angeht, sind mehr oder weniger nicht mehr vorhanden - das ist eine Katastrophe." Josef Voigt stellt klar: "Es ist nicht so, dass wir beispielsweise Musisches nicht wollen" - nur sei eben über den Pflichtunterricht hinaus "sehr wenig möglich." Laufend sei der BLLV am Arbeiten; vor Kurzem habe Simone Fleischmann (Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Anm. d. Red.) erst wieder eine Aktion für mehr Bildungsqualität gestartet. "Manchmal tut sich ein bisschen was, aber entscheidend tut sich nichts", ärgert sich Voigt.

Aber ist das alles im Schulalltag nicht enorm frustrierend? "Man kann nur innerhalb des Systems versuchen, seine Schule so aufzustellen, dass eine gute Atmosphäre herrscht - und zwar bei Schülern, wie auch bei Eltern und Lehrkräften." Ein Blick auf die Homepage beweise, wie viel in der Schulgemeinschaft Berg im Gau, Langenmosen, Brunnen auch nebenher für die Kinder laufe. Und Josef Voigt sagt: "Wir sind schon gewisse Künstler, dass wir das auch so in den Unterricht integrieren können, dass es wirksam wird." Doch auch das dürfe nicht vergessen werden: Im heutigen Lehrplan seien - anders als früher - Umweltbewusstsein, Demokratie-, Verkehrs-, Ernährungserziehung und, und, und zu finden. "Es ist nicht mehr die Grundschule von früher, dass man sagt: lesen, rechnen, schreiben, aus die Maus - sondern da ist ein bunter Strauß von Erziehungsaufgaben, die wir täglich leisten."

DIE SERIE

Die Kultusministerkonferenz hat vor Kurzem eine Studie vorgelegt, nach der es mit den Kompetenzen von Grundschülern alles andere als rosig aussieht. Wie sieht die Situation im Schrobenhausener Land aus? Welche Verbesserungsmöglichkeiten sehen Lehrer? Stimmt das Drumherum? Wie gut ist der neue Kompetenzlehrplan? Fragen über Fragen, über die zu reden ist. | SZ