Ingolstadt
Rasante Zeitreise auf der Baustelle

14.11.2010 | Stand 03.12.2020, 3:27 Uhr

Ritter und Knappe sowie die "Brezn-Beißer-Bande" weichen vor Hexe Rapfurza (Manuela Brugger) zurück. Eine der vielen Szenen des vom Premierenpublikum umjubelten Kindermusicals "Ritterland" im Großen Haus des Theaters Ingolstadt. - Foto: Theater Ingolstadt

Ingolstadt (DK) Seit Freitagabend ist in Ingolstadt Baustelle nicht mehr gleich Baustelle. Seit der Uraufführung des Kindermusicals "Ritterland" im Großen Haus wird sich so mancher Spaziergänger Gruben und Rohbauten genauer anschauen.

Ob womöglich nicht irgendwo eine schwarz gewandete Hexe auf ihrem pfurzenden Besen umherfliegt, ein aus seiner Zeit gefallener Ritter sich eine vorübergehende Bleibe auf einem Gerüst eingerichtet hat, oder ob eine Gang mit Abtropfgittern rappt oder auf zusammengesteckten Holzpferden reitet – ganz zu schweigen von der überraschend neuen Funktion eines Dixie-Klohäuschens.
 
In einem Bühnen füllenden Sammelsurium aus Schubkarren und Rohren, von Gittern bis Handwerkszeug – jedes Accessoire ein wandelbares Requisit – spielt die Geschichte der "Brezn-Beißer-Bande", zu der sich unerwartet ein Stadtkind gesellt, das sich mit der neuen Situation zunächst ebenso schwer tut wie die eingeschworene Gang mit ihm. Doch das Ritterfieber vereint sie, und spätestens als der in Not geratene – vom Zahnweh geheilte – leibhaftige Ritter Zahnstein von Lahnstein (Peter Greif) samt Knappe auftaucht, schweißt sie die Aufgabe zusammen, diesem die Rückkehr ins Mittelalter zu ermöglichen. Ein Abenteuer der besonderen Art, da der Schlüssel zum Zeitwald verloren gegangen ist, und weil die Hexe Rapfurza Böses im Schilde führt.

Regisseur Jürg Schlachter hat das Musical von Margit Sarholz und Werner Meier ("Sternschnuppe") als temporeiches und turbulentes, bilderstarkes und fantasievolles Stück auf die Bühne gebracht. Nach der umjubelten Inszenierung von "Die Kuh, die wollt ins Kino gehen" vor vier Jahren seine zweite Uraufführung eines Stückes des Erfolgsduos in Ingolstadt. Und er hat dabei erneut bewiesen, dass er ein Meister des Genres Kinder- und Jugendtheater – für kleine und große Zuschauer – ist.

Mit Isabell Heinke (Ausstattung), Tim Allhoff (Musikalische Einstudierung), Heike Fischer-Bergemann (Choreografische Mitarbeit) und Dramaturg Matthias Grätz sowie den Requisiteurinnen (Heidi Pfeiffer und Stefanie Aigner), Maskenbildnerin (Cäcilia Müther) und Kostümbildnerin (Martina Jantzen) hat Schlachter sämtliche Register gezogen. Eine fantastische Teamleistung. Geboten werden großes Bühnenbild und aberwitzige Details – vom ferngesteuerten Igel bis zum Schattentheater auf dem Gerüst –, spektakuläres Lichtgewitter und Geräuschkulisse (Jochen Reichler, Dirk Gräff, Andreas Hurler und Martin Funk) sowie eine mitreißende Choreografie. Und vor allem durchweg großartige schauspielerische, tänzerische wie gesangliche Leistungen. 70 Minuten Spielfreude und Spielwitz satt, Situationskomik und große Gefühle – und jede Menge Ohrwürmer zwischen Rock und Rap, Tango und Walzer. Und wenn mit rot-weißen Bändern ein Zwiefacher getanzt wird, die zauberhaft böse Hexe Rapfurza (Manuela Brugger) von ihrem Leid singt oder der tollpatschige wie kluge Knappe Knut (Adelheid Bräu) "Ja, so sans, die Rittersleut" anstimmt, gibt es auch Szenenapplaus.

Es geht bei diesem so fantasievollen wie realitätsnahen Ausschnitt aus jugendlichen Lebenswelten um einiges: um Gemeinschaft, Ausgrenzung und Toleranz, um gruppendynamische Prozesse und Rollenverständnis, um coole Jungs, die sich auch einmal fürchten dürfen. Diese Fülle an Befindlichkeiten und Situationen kommt wunderbar spielerisch wie selbstverständlich und vergnüglich daher, nie mit dem pädagogischen Zeigefinger, aber auch nie flüchtig. Fein ausgelotet und genau beobachtet und gespielt. Wenn den Bandenchef Max (Richard Putzinger) das Grauen packt, wenn der stets hungrige Tom (Robert Augustin) mit dem Spitznamen Schwarte gehänselt wird und dann seinen Platz findet, wenn sich Ferdinand (Christian Arndt) vom schnöseligen Stadtkind zum hilfsbereiten Freund wandelt. Herzerfrischend frech wie ausgleichend ist Maria Helgath als Dorfmädchen Rosalie und wunderbar Karlheinz Habelt als Angsthase Alex mit Potenzial zu mutigen Auftritten.

Die große Kunst, die kleinen und jungen Zuschauer auf Augenhöhe und in ihren Lebenswelten abzuholen, den richtigen Ton zu treffen und die passende (Bild-)Sprache zu finden und dennoch auf eine Zeitreise zu schicken – und für Theater zu begeistern – ist gelungen: zwischen Gegenwartssprache und gewähltem (Ritter-)Duktus, zwischen Twitter und Minne, zwischen Jugendklamotten und Rüstung. Der stürmische Applaus ließ keinen Zweifel daran.