Rätselhafte Buchreisen

20.11.2006 | Stand 03.12.2020, 7:19 Uhr

Ingolstadt (DK) "Jeder Engel ist schrecklich." An den Anfang seiner wunderbaren Lesung stellt Norbert Aberle ein Zitat aus Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien". S chließlich ver-weist auch das Werk, das der Schauspieler für den Auftakt der "Kleinen Hausnummern" gewählt hat, Orhan Pamuks Roman "Das neue Leben", vieldeutig auf Motive und Bilder anderer Dichter: Dante, Novalis – und eben Rilke.

"Orhan Pamuk habe ich natürlich aus aktuellem Anlass ausgesucht, weil er gerade den Literaturnobelpreis zugesprochen bekommen hat. Und, wie es in der Erklärung der Schwedischen Akademie heißt, neue Wege der Verständigung zwischen Ost und West sucht", erklärt Norbert Aberle später im Gespräch. Aber nicht nur die Aktualität der Themen – kulturelle Traditionen, Verwestlichung, politische Spannungen, das Zusammenleben hier – hat ihn fasziniert: "Ich halte es außerdem für ein gut geschriebenes und tiefgründiges Buch."

Kleine Hausnummern

Einen Eindruck davon vermittelte Norbert Aberle während der zweistündigen Lesung am Sonntagabend im Foyer des Kleinen Hauses. Eine gute Wahl, um diese neue Reihe im Experimentierlabor des Theaters zu beginnen. Denn Aberle hat seine Lesung nicht nur sorgfältig – und dramaturgisch klug – vorbereitet, er schafft auch eine sehr konzentrierte, sehr ruhige Atmosphäre, in der Pamuks geheimnisvolle Grenzgänge ihre Farbigkeit in all ihrer Kraft entfalten können.

"Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich." Mit diesem Satz beginnt der Roman. Osman heißt der Ich-Erzähler, ein 22-jähriger Ingenieur-Student in Istanbul, dem die Lektüre "Wegweiser durch ein wildes, fremdes Land" vorgaukelt , während seine bekannte Umgebung und einfache Alltagsgeräusche beängstigend belanglos und unwirklich werden. "Mich hatte das Gefühl gepackt, das Buch spreche von mir." Osman macht sich auf die Suche nach dem Mädchen, in dessen Hand er dieses Buch zuerst entdeckt hat. Er findet sie – und verliebt sich. Und beginnt eine gefährliche, rastlose Reise – "schäbige Räume, rasende Autobusse, müde Menschen, verblasste Lettern, vergessene Ortschaften, Gespenster" –, die ihn unweigerlich mit dem Tod in Berührung bringt.

Ein spannendes, verrätseltes, poetisches, in Teilen auch komisch - philosophisches Buch (man denke nur an die Taschenuhr, die das Glück anzeigt), das auch die Frage nach der Wirkung von Literatur, nach Wahrhaftigkeit aufwirft und auf jeden Fall Lust auf mehr macht. Mehr Pamuk. Mehr Kleine Hausnummern.