Radikal realistisch

Im flämischen Gent ist eine grandiose Van-Eyck-Ausstellung mit Werken aus der ganzen Welt zu sehen

04.02.2020 | Stand 23.09.2023, 10:22 Uhr
Voller Anmut und Pracht: Jan van Eycks "Die Verkündigung des Herrn" ist eines der Bilder in der spektakulären Schau "Eine optische Revolution". −Foto: Andrew W. Mellon Collection, National Gallery of Art, Washington. D.C.

Gent - "Es sieht aus wie ein Alien", sagt Jan-Holger Borchert, und damit zitiert der Museumsmann aus Hamburg auch gleich den besten Werbeslogan zur größten Jan-van-Eyck-Ausstellung aller Zeiten.

Das flauschige kleine Lamm Gottes, das im Zentrum des berühmten "Genter Altars" steht und seine eher verschwommenen Augen früher schafstypisch auf der Seite hatte, schaut jetzt frontal. Also wie ein Mensch. Dieser durchdringende Blick, die rosarote Schnauze und die weiten Nasenlöcher lassen die Emotionen derzeit heftig in die Höhe schnellen. Kommentare wie "absolut hässlich" oder "verstörend" gehören noch zum Harmloseren.

Borchert, der die Ausstellung im Museum voor Schone Kunsten in Gent mit konzipiert hat, amüsiert sich über die ganze Aufregung: "Es ist ja nicht üblich, dass die Alten Niederländer für heiße Debatten sorgen". Andererseits würde der Hype ums Lamm vom Eigentlichen ablenken: nämlich davon, dass dem um 1390 wahrscheinlich in Maaseik in der Provinz Limburg geborenen Jan van Eyck mit seiner Malerei ein völlig neuer Blick auf die Realität gelungen ist. Und dieser Blick bestimmt bis heute, was wir als realistische Darstellung der Wirklichkeit begreifen.

Man möchte ja nicht nur über die Pelzverbrämungen am Rock des Goldschmieds Jan de Leeuw (1436) aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien streichen und prüfen, ob die Perlen des Verkündigungsengels (um 1435) aus Washington nicht vielleicht doch einfach nur aufgepappt sind wie viel später die Harztränen der barocken spanischen Passionsmadonnen. Genauso gleitet man genüsslich übers Gesicht des gerade mal 17 Zentimeter breiten "Porträts eines Mannes mit blauem Chaperon" (1428-30) aus dem Brukenthal-Museum im rumänischen Sibiu und fragt sich, ob der Pinsel mit zwei, drei Marderhaaren für die Bartstoppeln nicht schon zu dick gewesen sein dürfte. Überhaupt bleibt man an diesen ungeschönten Typen mit ihren ganz natürlichen Unebenheiten und Makeln gerne hängen. Da ist kein Krähenfuß und kein Kräutlein erfunden. "Jan beobachtet Dinge, wie sie keinem einzigen Maler vor ihm aufgefallen waren", hat Erwin Panofsky 1953 betont. Die Flechten auf Van Eycks Felsen können Botaniker mühelos mit der Lupe bestimmen, und auf dem Gemälde der "Madonna des Kanonikus Joris van der Paele" (1436, Brügge) lassen sich beim Kleriker gleich mehrere Krankheiten und selbst der Graue Star diagnostizieren.

Das mag banal klingen, ist aber ein entscheidender Teil dieser "optischen Revolution", wie es im Untertitel der Ausstellung griffig heißt. Von einem radikalen ästhetischen Umbruch zu sprechen, wäre passender, zumal dazu nicht zuletzt auch die Ölmalerei gehört. Die hat Jan van Eyck zwar nicht erfunden - diese Mär geistert immer noch durch die Kunstgeschichte -, allerdings gelang es dem Künstler, die Farbmischung flüssiger zu machen und die Technik immens zu verbessern. Durch neue Zutaten konnte er die enervierend lange Zeit des Trocknens deutlich verkürzen und hauchdünne Schichten übereinanderlegen. So kam es zu einer nie gesehenen Tiefenwirkung, die gerade auch die Italiener verblüfft hat.

Entsprechend sind in der Genter Superschau nicht nur Kollegen, Vorgänger und Nachfolger versammelt, sondern auch wichtige italienische Zeitgenossen. Solche Vergleiche sollten Schule machen, sie schärfen den Blick für die unterschiedlichen Qualitäten, die sich nonchalant nebeneinander entfalten können. Der endlos gegeneinander ausgespielte Umgang mit der Perspektive zeigt außerdem, dass die intuitive Version, wie sie bei Van Eyck auszumachen ist, von einem ganz anderen Interesse am Raum und den Dingen zeugt. Mit dem Lineal gezogene Linien sind eben nicht alles. Das demonstriert auch der "Genter Altar", Van Eycks Opus Magnum (das unter sämtlichen Kunstwerken die abenteuerlichste Besitzer-Geschichte aufweisen kann). Dessen 2012 begonnene Restaurierung gab den Anstoß zur Ausstellung und sowieso zum Van-Eyck-Jahr mit einem riesigen Aufgebot an Veranstaltungen - von der Videoshow auf überdimensionalen Monitoren bis zur (noch nicht fertigen) Komposition Arvo Pärts.

Nun wurde also nicht nur das Lamm Gottes "vermenschlicht", was auf die Entfernung freilich kaum zu sehen ist, sondern es sind weite Teile der Altartafeln bereits in den ursprünglichen Zustand gebracht. Durch die Abnahme des vergilbten Firnis und der Übermalungen, die vornehmlich im 16. Jahrhundert eine weichere Atmosphäre befördern sollten, sind die originalen Farbschichten freigelegt. Deren Intensität ist unbeschreiblich, Van Eycks Ausführungen wirken nun entschiedener, klarer. Und den Außenflügeln kommt man jetzt im Museum so nahe wie nie. Nach der Ausstellung wandern sie wieder zurück in die Sankt-Bavo-Kathedrale, für die der Altar bis 1432 geschaffen wurde und wo der Mittelteil mit dem Lamm wieder am alten Platz steht.

Man muss also pendeln, um den ganzen Van Eyck zu erkunden. In diesem Fall sind das immerhin 13 von 23 Werken, die schon lange über alle Welt verstreut sind. Neben der Kathedrale lohnt sich ein Abstecher ins 50 Kilometer entfernte Brügge, wo der Meister übrigens 1441 starb und am 12. März die zweite Van-Eyck-Präsentation beginnt. Im Mittelpunkt stehen die erwähnte Madonna des Kanonikus und Ehefrau Margareta.

Man weiß kaum etwas über die Van Eycks. Aber Margareta war vermutlich die Geschäftsfrau hinter dem grandiosen Künstler, sie dürfte Jan den Rücken freigehalten haben, um sich ganz auf die Bildnerei zu konzentrieren und um seinen Aufträgen für den Burgunderherzog Philipp den Guten nachzukommen. So hatte Van Eyck etwa Isabel von Portugal zu porträtieren. Philipp wollte sehen, mit wem er seine dritte Ehe eingehen würde, und wusste nur zu gut, dass man der minutiösen Beobachtungsgabe seines Hofmalers bedingungslos vertrauen kann. Darin liegt bis heute ein großes Faszinosum.

DK


Museum voor Schone Kunsten Gent, bis 30. April, Katalog (deutsche Version bei Belser) 64,50 Euro (im Handel 69 Euro), weitere Infos unter www. visit. gent. be/de/omg-van-eyck-was-here.

Christa Sigg