München
Quo vadis, Münchner Kammerspiele?

Intendant Matthias Lilienthal versucht, mit gewagtem Trash-Theater ein junges Publikum anzusprechen und vergrault dabei die Abonnenten

09.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:41 Uhr

Foto: DK

München (DK) Theater muss provozieren. Ganz klar. Theater muss bilden und aufklären. Selbstverständlich. Theater muss auch unterhalten. Keine Frage. Aber muss sich Theater heute auch auf der Jagd nach Zuschauerzahlen auf das Niveau von Trash- und Comedy-Produktionen des Privatfernsehens begeben? Diese Frage stellen sich nicht wenige Theaterbegeisterte, seitdem Matthias Lilienthal zu Beginn dieser Spielzeit als Intendant der Münchner Kammerspiele fungiert.

Der Stadtrat der Landeshauptstadt hat auf Vorschlag des Kulturreferenten Hans-Georg Küppers den 1959 in Berlin geborenen Lilienthal als Nachfolger von Johan Simons ab der Spielzeit 2015/16 als neuen Leiter des traditionsreichen städtischen Schauspielhauses bestimmt. Er solle - wie es in der Beschlussvorlage hieß - "den bisherigen erfolgreichen Weg des Theaters fortsetzen und die Internationalisierung sowie die Öffnung in die Stadt weiter entwickeln". Der persönliche Einsatz des ehemaligen Kammerspiele-Intendanten Frank Baumbauer für seinen früheren Dramaturgen am Zürcher Schauspielhaus soll die Zweifler im Stadtrat damals umgestimmt haben. Ob Baumbauer freilich nach der Bilanz des ersten Dreiviertels der Lilienthal-Spielzeit seinen Vorschlag wiederholen würde, dürfte bezweifelt werden. Denn große Teile des allen Neuerungen aufgeschlossenen Bildungsbürgertums, das traditionell das Stammpublikum der Münchner Kammerspiele stellt, murrte nicht nur laut und vernehmlich über die meisten der von Lilienthal zu verantwortenden Neuinszenierungen der letzten Monate, sondern verließ - samt Aufkündigung des Abonnements - restlos verärgert die Aufführungen.

Dabei war Matthias Lilienthal durchaus ein erfolgreicher Theatermann: Den Festivals "Theater der Welt" in Bonn, Düsseldorf, Köln, Duisburg und zuletzt 2014 in Mannheim stand er als Programmverantwortlicher vor und als Chefdramaturg sowie stellvertretender Intendant brachte er die Berliner Volksbühne unter der Intendanz des "Klassik-Zertrümmerers" Frank Castorf in die Schlagzeilen und auch zu manchen Auszeichnungen. Von 2003 bis 2012 war er künstlerischer Leiter und Geschäftsführer des Berliner Theaters Hebbel am Ufer, das - wie es in der Presseerklärung nach seiner Wahl zum Münchner Kammerspiele-Intendanten ebenso blumig wie reichlich verschwurbelt hieß - "unter seiner Leitung ein theatraler Ort wurde, in dem Realität, Globalisierung und Stadtraum auf derselben künstlerischen Stufe verhandelt wurden wie übergeordnete Themen".

Doch München ist nicht Berlin, das Publikum in den Münchner Kammerspielen ist nicht identisch mit dem Kreuzberger Szene-Publikum im Berliner HAU, wie Lilienthal sein Hebbel am Ufer abgekürzt und griffig gerne nannte. Seit Anbeginn wollen die Kammerspiele-Besucher niveau- und gehaltvolle Stücke in beeindruckenden Inszenierungen bedeutender Regisseure und mit großartigen Schauspielerinnen und Schauspielern goutieren. Aufführungen, die über Jahrzehnte hinweg den Ruf der Kammerspiele als eines der besten Theater im deutschsprachigen Raum begründeten und über Jahrzehnte hinweg festigten. Man muss nicht nur an Dieter Dorns glorreiche Zeiten als Intendant von 1976 bis 2001 mit seinem exquisiten Ensemble denken, in dem Gisela Stein, Doris Schade, Thomas Holtzmann, Rolf Boysen und viele andere Mimen erster Güte wirkten. Doch man darf und muss die jetzige Situation schon mit dieser Glanzzeit vergleichen.

Konnte man über Lilienthals Einstieg in München mit den an Verkehrsknotenpunkten und vor Luxusboutiquen platzierten "Shabby-Shabby"-Hütten, die auf die Wohnungsnot aufmerksam machen sollten, ebenso lächeln wie über die Umbenennung der drei Kammerspiele-Spielorte "Schauspielhaus", "Spielhalle" und "Werkraumtheater" in "Kammer 1", Kammer 2" und "Kammer 3", so waren die ersten Premieren seiner ersten Spielzeit größtenteils Flops. Vor allem jedoch waren sie eine Zumutung für diejenigen Theatergänger, die - wie gewohnt - auf einer Schauspielbühne auch gehaltvolle Theateraufführungen in intelligenter Regie und hehrer Schauspielkunst sehen und genießen wollen: Shakespeares "Kaufmann von Venedig" geriet in der Inszenierung des neuen Hausregisseurs Nicolas Stemann jedoch zu einer banalen Videoshow mit überreichlich servierten Trash- und Comedy-Elementen, mit plattem Mummenschanz und Transvestiten-Tingeltangel, wobei die Schauspieler - meist mit dem Rücken zum Publikum - den Shakespeare-Text wohl als lästige Beigabe größtenteils vom Teleprompter ablesen durften.

Und weiter ging's mit ebenso grellen wie läppischen Performance-Aufführungen bergab: Etwa mit der Roman-Adaption von Dostojewskis "Der Spieler" als hippeliges, mit unsäglichen Albernheiten vollgestopfte Kindergeburtstagsparty oder mit Philippe Quesnes "Caspar Western Friedrich" als eine texanische Cowboy-Show, dargeboten als Handwerkermumpitz mit Jodlereinlagen. Richard Jirgls "Nicht von Euch auf Erden" erging sich in ermüdenden Monologen im trivialen Nirwana, während die Uraufführung von E. J. James' "50 Grades of Shame" durch das Berliner Performance-Kollektiv "She She Pop" zur aufgemotzten Video-Langeweile geriet: Vermummte Nackte, zappelige Exhibitionisten, smarte Männer mit prallen Brüsten und dickleibige Frauen mit männlichen Geschlechtsorganen flimmerten dabei über die Videoleinwände. Und auch die mit Spannung erwartete Uraufführung von Elfriede Jelineks "Wut" ertrank erst kürzlich in plumpen und peinlichen Späßen.

Einzig Simon Stones Inszenierung des Filmklassikers "Rocco und seine Brüder" konnte wenigstens dank Brigitte Hobmeier, Salzburger Buhlschaft der letzten Jahre, vor dem Fiasko gerettet werden, und Sepp Bierbichlers "Mittelreich", die Familiensaga vom Starnberger See als "Deutsches Requiem", konnte in Anne-Sophie Mahlers spannender Regie überzeugen. Martin Sperrs ungemein betroffen machenden "Jagdszenen aus Niederbayern" (in der Inszenierung von Martin Kusej) und Gerhard Polts bitterbös-satirische Abrechnung mit dem "Ekzem Homo" sind weiterhin restlos ausverkauft. Aber das sind ja auch Übernahmen aus Johan Simons letztem Intendanten-Jahr.

Ein neues, ein anderes Publikum, jüngere Besucherschichten, die am Comedy-TV und an trivialen Videoclips auch im Theater Gefallen finden, will Matthias Lilienthal anlocken. Der Büchershop im Foyer, bei seriösen Schauspielhäusern wie dem Wiener Burgtheater oder dem Hamburger Schauspielhaus selbstverständlich, hat er daher schon mal durch eine verspiegelte Bar ersetzt, bei der - natürlich - das Kultbier der ach so coolen Münchner Hippsters und Jung-Hedonisten serviert wird.

Ob die Rechnung aufgeht? Der Anteil der jüngeren Zuschauer hat zwar zugenommen, doch die Platzauslastung beträgt wegen des Ausbleibens eines ständig zunehmenden Teils der seit Jahren und Jahrzehnten eingeschworenen Kammerspiele-Fans gerade mal 75 Prozent. Im Residenztheater und im Volkstheater liegt die Quote bei über 90 Prozent. Doch den eingeschlagenen Weg, mit Performance- und Trash-Theater zu punkten, wollen Lilienthal und sein Dramaturg Benjamin von Blomberg, wie sie bei der Vorstellung des Spielplans für die nächste Saison stolz verkündeten, weiterhin verfolgen. Neuerdings auch mit Opernaufführungen in der "Kammer 1": Am morgigen Samstag mit "Figaros Hochzeit".