München
Qualvoller Tod in sengender Hitze

Erstmals steht eine deutsche IS-Rückkehrerin vor Gericht

09.04.2019 | Stand 02.12.2020, 14:14 Uhr
Beim Betreten des Gerichtssaals verbarg die Angeklagte ihr Gesicht hinter einer Mappe. −Foto: Stäbler

München (DK) Jennifer W. (27) soll im Irak für die Sittenpolizei der Terrormiliz patrouilliert sein und tatenlos zugesehen haben, wie ihr Mann eine fünfjährige Sklavin verdursten ließ.

Jennifer W. hält sich eine rote Mappe vors Gesicht, als sie an diesem Morgen den Gerichtssaal B277 betritt. Rot sollen nach den Erkenntnissen der "Süddeutschen Zeitung" auch die Schuhe gewesen sein, die ein fünfjähriges Mädchen im Sommer 2015 im irakischen Falludscha trug, während es in der sengenden Hitze verdurstete. Jennifer W. hätte das Kind, das laut der Bundesanwaltschaft als Sklavin in ihrem Haus lebte, retten können. Doch sie tat es nicht. Deshalb muss sich die 27-Jährige nun unter anderem wegen Mordes durch Unterlassen vor dem Oberlandesgericht München verantworten.

Es ist der erste Prozess gegen eine deutsche IS-Rückkehrerin, und entsprechend groß war das öffentliche Interesse gestern Vormittag: Zwei Dutzend Fotografen und Kameraleute drängen sich im Gerichtssaal und verfolgen jeden Schritt von Jennifer W., ehe sie auf der Anklagebank neben ihrem Anwalt Ali Aydin Platz nimmt. Als die 27-Jährige später die Mappe sinken lässt, zeigt sich über ihrer weißen Bluse und dem schwarzen Blazer ein fast noch kindliches Gesicht. Sie trägt ihre dunklen Haare zum Zopf gebunden - ohne Kopftuch, ohne Schleier. "Ihre eigene Entscheidung" sei das gewesen, wird ihr Anwalt später sagen.

Wäre Jennifer W. dergestalt im Jahr 2015 durch Mossul oder Falludscha spaziert - die zwei irakischen Städte gehörten seinerzeit zum Herrschaftsgebiet des sogenannten Islamischen Staats - dann wäre sie wohl schnell ein Opfer der Hisba geworden, der Sittenpolizei des IS. Diese achtete darauf, dass sich Frauen an die strengen Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften der Terrormiliz hielten. Und für eben jene Hisba soll Jennifer W. durch die Straßen im Irak patrouilliert sein - mit der Kalaschnikow am Arm und einer Sprengstoffweste am Körper, zur Einschüchterung. So sieht das zumindest die Bundesanwaltschaft in ihrer Anklageschrift.

Jennifer W. stammt aus Lohne in Niedersachsen. Dort erinnern sich dem NDR zufolge ehemalige Lehrerinnen an sie als "ganz normales Mädchen". Zunächst besuchte sie das Gymnasium, später die Realschule, nach der achten Klasse war dann Schluss. Derweil wandte sich die evangelisch getaufte Jennifer W. zunehmend dem Islam zu. Ab ihrem 17. Lebensjahr trug sie konsequent Kopftuch; 2013 konvertierte sie und lief fortan tief verschleiert durch die 26000-Einwohner-Stadt Lohne. Schon zu dieser Zeit muss sich Jennifer W. radikalisiert haben, mutmaßlich auch übers Internet. Zunächst habe sie für die kurdische PKK kämpfen wollen; im August 2014 reiste sie dann aber über die Türkei und Syrien in den Irak, um sich dort dem IS anzuschließen.

"Sie unterstellte sich der Befehlsgewalt der Vereinigung und entfaltete Tätigkeiten zur Förderung der terroristischen Zwecke der Vereinigung", liest Claudia Gorf, die Vertreterin der Bundesanwaltschaft, im Gerichtssaal aus der Anklageschrift vor. Demnach habe Jennifer W. im Irak auch ihren Ehemann kennengelernt, einen IS-Kämpfer, mit dem sie 2015 zunächst in Mossul und später in Falludscha lebte. Dort habe sich dann jene grausame Tat ereignet, deretwegen sich die Angeklagte jetzt nicht nur wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Erwerb von Kriegswaffen verantworten muss - sondern auch wegen Mord durch Unterlassen.

Laut Oberstaatsanwältin Gorf kauften Jennifer W. und ihr Mann auf einem Sklavenmarkt in Falludscha ein fünfjähriges Mädchen. Es gehörte der religiösen Minderheit der Jesiden an, die besonders unter dem IS zu leiden hatte. So prüfen die Vereinten Nationen derzeit, ob die Massaker an den Jesiden einen Völkermord darstellen. Die Fünfjährige musste Jennifer W. und ihrem Mann im Haushalt dienen und entgegen ihres Glaubens auch mit ihnen beten. Beugte sie sich dabei nicht tief genug hinab, schlug sie der Hausherr auf den Hinterkopf.

Im Sommer 2015 soll das Mädchen dann krank geworden sein und infolgedessen auf eine Matratze uriniert haben. Das erboste den Ehemann von Jennifer W. derart, dass er das Kind aus dem Haus brachte und es mit Handschellen im Hof ankettete - bei 45 Grad und brütender Hitze. "Obwohl die Angeklagte erkannte, dass das Mädchen mangels Flüssigkeit versterben würde, blieb sie untätig und versorgte es weder mit Wasser noch löste sie die Handschellen", heißt es in der Anklage. "Das Mädchen verdurstete in der Folge."

Während die Staatsanwältin all diese Grausamkeiten im Gerichtssaal schildert, zeigt Jennifer W. keinerlei Regung. Nur ab und an blättert sie in der Anklageschrift vor ihr eine Seite weiter - offenbar, um mitzulesen. Kaum hat die Oberstaatsanwältin ihren Vortrag beendet, ist dieser erste Verhandlungstag auch schon wieder vorbei. Das Gericht verkündet, dass der Prozess erst in drei Wochen fortgesetzt werde, was an "Hunderten Seiten neuer Unterlagen" liege, so Verteidiger Ali Aydin, die die Bundesanwaltschaft ins Verfahren eingebracht habe.

Und diese Akten haben es in sich: Man habe zwischenzeitlich die Mutter des fünfjährigen Mädchens ausfindig gemacht, berichtet Oberstaatsanwältin Claudia Gorf nach der Verhandlung. Sie soll mit ihrer Tochter ebenfalls als Sklavin im Haus von Jennifer W. gewohnt haben. "Und sie ist nach derzeitigem Stand bereit, sich als Zeugin zur Verfügung zu stellen", so Gorf. Überdies tritt die Mutter als Nebenklägerin auf; vertreten wird sie von der deutschen Strafverteidigerin Natalie von Wistinghausen und der internationalen Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, die zum Prozessauftakt aber nicht erscheint. "Unsere Mandantin wird die Gelegenheit haben zu erzählen, was ihr im Haus der Angeklagten widerfahren ist", sagt Natalie von Wistinghausen. "Die Erkenntnisse deuten darauf hin, dass es hier auch um Vorwürfe der Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht - Sklaverei, Folter, Menschenhandel."

Durch die Aussage der Mutter könnte der Prozess in eine neue Richtung gehen, denn bis vor Kurzem resultierten die Erkenntnisse der Bundesanwaltschaft vor allem auf den Angaben, die Jennifer W. selbst gemacht hat - im Internet und persönlich. Anfang 2016 war sie schwanger nach Deutschland zurückgekehrt - offenbar, um dort ihr Kind zur Welt zu bringen. Der Ideologie des IS hatte sie aber nicht abgeschworen; vielmehr wollte die 27-Jährige mit ihrer Tochter wieder zurück in den Irak oder nach Syrien. Um dorthin zu gelangen, stieg sie im Juni 2018 in ein Auto, das sie in die Türkei bringen sollte. Am Steuer saß ein vermeintlicher Glaubensbruder - in Wahrheit jedoch eine "Person, von den deutschen Behörden eingesetzt", wie es Oberstaatsanwältin Gorf formuliert. Dem V-Mann erzählte Jennifer W. freimütig über ihre Zeit im Irak, über ihre Einsätze für die Hisba, auf die sie mächtig stolz war, und auch über den Tod des fünfjährigen Mädchens. Wanzen im Wagen schnitten alles mit; am Rande einer Autobahn wurde Jennifer W. dann festgenommen - in Bayern, weshalb der Prozess in München stattfindet.

Abgesehen von ihren Aussagen gebe es aber "keine objektiven Beweismittel, dass meine Mandantin bei der Hisba war", sagt ihr Verteidiger Ali Aydin nach dem kaum einstündigen Prozessauftakt. Und für die Angaben von Jennifer W. könne es ja auch andere Gründe geben, mutmaßt der Anwalt. "Manchmal sagt man etwas, weil man angeben will oder cool sein möchte." Hinsichtlich des Vorwurfs, seine Mandantin habe tatenlos zugesehen, wie ein kleines Mädchen verdurstet sei, erklärt Aydin: "In diesem Fall müsste erst mal geprüft werden, inwieweit sie überhaupt die Chance gehabt hätte einzugreifen. Es ist ja nicht so, dass sie, wenn ihr etwas nicht gepasst hätte, einfach die Kripo Osnabrück hätte anrufen können." Zudem könne man nicht behaupten, Frauen hätten beim IS keinerlei Rechte, sagt der Verteidiger, und sie einen Absatz später in der Anklage zur Verantwortung ziehen.

Für den Prozess sind 21 weitere Verhandlungstage angesetzt.