München
Protokoll einer Tragödie

Der erste Prozesstag gegen den mutmaßlichen Doppelmörder von Krailling bringt grausige Details ans Licht

17.01.2012 | Stand 03.12.2020, 1:56 Uhr
 Abgespielt hat sich die Tat in den beiden oberen Stockwerken eines Hauses im beschaulichen Münchner Vorort Krailling. −Foto: Peterhans

München (DK) Der große, mit viel Liebe auf die Kinderzimmerwand gemalte Löwe konnte die elfjährige Sharon nicht beschützen. Auch ihre acht Jahre alte Schwester Chiara nicht. Die beiden Mädchen wurden am 24. März vergangenen Jahres im beschaulichen Münchner Vorort Krailling auf bestialische Weise ermordet: Sie wurden zunächst gewürgt, geschlagen, dann erstochen. Umgebracht haben soll die beiden ihr Onkel, der gelernte Feinmechaniker und zuletzt als Postzusteller tätige Thomas S. – und zwar aus reiner Habgier. Gestern begann am Landgericht München II der Prozess gegen den 51-Jährigen.


 
Gleich zum Auftakt hakt es: Durch den riesigen Andrang verzögert sich die Eröffnung der Verhandlung um eine gute halbe Stunde. Die Zuhörer müssen bei diesem außergewöhnlichen Prozess gleich zwei Sicherheitsschleusen passieren. Nachdem vor wenigen Tagen in Dachau ein Staatsanwalt erschossen wurde, wollen die Verantwortlichen offenbar auf Nummer Sicher gehen.

Als Thomas S. schließlich den Gerichtsaal A 101 betritt, bricht ein Blitzlichtgewitter los. Der 51-Jährige, der seit Anfang April 2011 in Untersuchungshaft sitzt, gibt sich betont lässig. Das hundertfache Klackern der auslösenden Kameras lächelt er weg. Gelegentlich wischt er sich leicht genervt übers Gesicht. So, als ginge ihn das hier alles nichts an. So, als wüsste er nicht, warum er hier steht. Unter seinem grauen Pullover zeichnet sich sein Bauch ab, davor hat er die Arme verschränkt. Seine Haare sind kurz rasiert.

Sagen will er nichts. Der Angeklagte schweigt auf die Frage des Vorsitzenden Richters Ralph Alt, ob er Angaben machen möchte. Verteidiger Adam Achmed erklärt, sein Mandat wolle sich nicht äußern – vorerst zumindest. Anette S., die Mutter der Opfer, ist zum Prozessauftakt nicht gekommen, sie wird als Nebenklägerin durch Anwälte vertreten.

Dann trägt Staatsanwalt Florian Gliwitzky die Anklageschrift vor. Es ist das Protokoll einer Tragödie, um nicht zu sagen eines Gemetzels. Es schildert den verzweifelten Todeskampf der beiden Mädchen. Bei den zahlreichen grausigen Details schlägt sogar die junge Justizbeamtin, die hinter dem Angeklagten sitzt, entsetzt die Hände vors Gesicht.

Laut Anklageschrift soll Thomas S. kurz nach Mitternacht am 24. März die Wohnung seiner Schwägerin Anette in Krailling betreten haben. Die Tür war nicht abgeschlossen, die Mutter der beiden Kinder hielt sich mit ihrem Lebensgefährten nur 50 Meter weiter in einer Musik-Kneipe auf. Der Angeklagte soll das alles gewusst haben.

Zunächst versuchte Thomas S. angeblich die achtjährige Chiara mit einem Kunststoffseil zu erdrosseln, während sie schlief. Ihre elfjährige Schwester Sharon sei daraufhin aus ihrem Zimmer in die Wohnküche gerannt, wo sich ihr der Angeklagte in den Weg stellte und ihr mehrmals mit einer Kurzhantelstange auf Kopf und Schultern schlug. Weil sich das Mädchen trotzdem weiter heftig wehrte, habe er ein zwölf Zentimeter langes Küchenmesser gegriffen und Sharon fünfmal in die Brust gestochen. Die Elfjährige starb an massiven inneren Blutungen.

Der Todeskampf von Sharon spielte sich laut Anklageschrift vor der Zimmertür ihrer jüngeren Schwester ab. Chiara verspürte „Todesängste“, heißt es in dem Schriftstück. In ihrer Panik habe sie die Türe von innen zugedrückt. Doch nachdem Thomas S. Sharon getötet habe, habe er mit Gewalt die Zimmertür aufgestoßen und auch auf die Achtjährige mit der Hantelstange eingeschlagen. Anschließend habe er mit dem Messer mindestens elfmal auf ihren Oberkörper eingestochen. Dann soll er sie ins Schlafzimmer der Mutter im Dachgeschoss gebracht haben. Auch Chiara starb an der massiven Gewalteinwirkung.

Doch damit soll sein Plan laut Anklageschrift noch nicht erfüllt gewesen sein. Thomas S. wollte demnach seine Schwägerin töten, um Vermögen und Immobilien zu erben. Er ließ Wasser in die Badewanne ein und steckte einen Handmixer in die Steckdose über dem Wannenrand. Alles habe am Ende wie ein so genannter „erweiterter Suizid“ aussehen sollen – also nach einem Selbstmord seiner Schwägerin Anette, die auch ihre beiden Kinder mit in den Tod riss.

Außerdem soll Thomas S. im Dachgeschoss der Wohnung das Kabel der Deckenbeleuchtung herausgerissen haben, damit er sein Opfer im Dunkeln abpassen konnte. Dann soll der Angeklagte das Blut in der Wohnküche aufgeputzt und sich auf die Lauer gelegt haben. Weil die Schwägerin aber nicht zum erhofften Zeitpunkt kam, fürchtete Thomas S. offenbar entdeckt zu werden und flüchtete in den frühen Morgenstunden. Als Anette S. dann gegen 4.45 Uhr in Begleitung ihres Lebensgefährten aus der Kneipe zurückkehrte, entdeckte sie ihre furchtbar zugerichteten Töchter.

Thomas S. zeigt sich während dieser Ausführungen, wie auch den restlichen Prozesstag, völlig unbeeindruckt. Hin und wieder schüttelt er ungläubig den Kopf, gelegentlich schaut er herablassend in die Reihen der Journalisten und Zuhörer. Manchmal grinst er. Er hört aber immer aufmerksam zu und macht sich Notizen. Ein bizarres Schauspiel: Man hat das Gefühl, als wolle er nicht wirken wie einer, über den gerichtet wird, sondern der selbst richtet. Sein Blick sagt: „Ihr werdet schon noch sehen.“

Ein Beispiel für sein Verhalten: Gutachter Hennig Saß von der Uni-Klinik Aachen berichtet über die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten. Etwa sieben Stunden hätten sie sich miteinander unterhalten, Thomas S. sei dabei sehr kooperativ gewesen. „Er hat gut mitgearbeitet.“ Der Angeklagte folgt auch den Ausführungen seines Gutachters aufmerksam. Und als dieser von einer Jugend-Episode erzählt, bei der Thomas S. kurz vor einer wichtigen Prüfung alles hinwarf, sich für 50 Mark einen alten Mercedes kaufte und spontan nach Griechenland fahren wollte, lächelt der Angeklagte und nickt dem Gutachter zu. So als wolle er sagen: „Was war ich für ein toller Hecht.“ Thomas S. scheint nicht zu verstehen, in welcher Situation er sich befindet.

Vom Gutachter erfahren die Zuhörer auch, dass Thomas S. Sohn eines Maurers und einer Arbeiterin bei den früheren Münchner Uher-Werken ist. Bei Raufereien auf dem Hof sei er immer der Stärkste gewesen sei. Später habe er sich dann vor der Bundeswehr gedrückt, indem er eine psychische Störung vorschwindelte. Beim Angeklagten gebe es keine sexuellen Auffälligkeiten, er habe pädophile Neigungen verneint. Thomas S. habe betont, „ihm gefalle es nicht, wenn sich Menschen an kleinen Kindern vergreifen“. Der 51-Jährige ist selbst Vater von sechs Kindern.

Im Gerichtsaal gibt es dann auch noch per Beamer 360-Grad-Bilder vom Tatort zu sehen, die mit einer Spezialkamera gemacht wurden. Raum für Raum wird so abgefahren. Die Zuschauer sehen die Spielsachen, die Kuscheltiere und die an den Schrank gemalten Herzchen der beiden Mädchen. Und sie sehen, dass es praktisch keinen Raum gibt, in dem nicht Blutspritzer und blutige Handabdrücke von der schrecklichen Tat zeugen.

Bewegende Minuten dann auch, als nacheinander ein junger Polizist und seine Kollegin schildern, wie sie als erste am Tatort eintrafen. Der Beamte schickt seiner Aussage voraus, dass er versuchen wolle, das Erlebte möglichst objektiv zu schildern, „obwohl man dazu manchmal nur laut schreien möchte“. Er berichtet, wie ihm die Mutter mit blutverschmierten Händen entgegenstürzt und immer wieder schreit: „Meine Kinder sterben, meine Kinder sind tot.“

Der Polizist erzählt weiter, wie er noch versuchte die blutüberströmte Sharon zu reanimieren – obwohl sich ihr Arm schon kalt angefühlt habe und am Hals kein Puls mehr zu spüren gewesen sei. Die Situation sei vor allem auch deswegen „sehr unangenehm“ gewesen, weil alles so dunkel gewesen sei und sich ja eventuell noch ein Täter in der Wohnung habe befinden können.

Verständnis für so eine Tat gibt es nicht – erst recht nicht, wenn man das Motiv kennt, das die Anklageschrift nennt: Habgier. Im April 2007 begann Thomas S. mit dem Bau eines Einfamilienhauses in Peißenberg (Kreis Weilheim-Schongau). Dafür nahm er angeblich einen Kredit über 135 000 Euro auf. Im Sommer 2010 soll ihm dann spätestens klar geworden sein, dass er die Raten dafür nicht mehr aufbringen konnte.

Seine Frau besaß gemeinsam mit ihrer Schwester Anette S. eine Eigentumswohnung in Krailling. Mehrmals bat Thomas S. angeblich seine Schwägerin, den Miteigentumsteil seiner Frau auszulösen, um an Geld zu kommen. Doch die lehnte ab. Anfang 2011 stand die Zwangsvollstreckung des Hauses unmittelbar bevor. Da fasste Thomas S. laut Anklageschrift den Plan, Anette S. und ihre beiden Kinder zu töten. Dadurch habe er an die Immobilien und das Vermögen der Familie S. kommen wollen.

Wie es wirklich war, weiß allein der Täter. Wie viel noch ans Licht kommt, wird sich im Laufe des Prozesses zeigen. Angesetzt sind zunächst noch zwölf Verhandlungstage. Das Urteil soll am 27. März fallen. Heute wird der Prozess am Landgericht München II fortgesetzt.