Ingolstadt
Poetisch und selbstironisch

In "Statt etwas oder Der letzte Rank" hält Martin Walser Rückschau und blickt nach vorn

04.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:50 Uhr

Ingolstadt (DK) Nur ein knappes Jahr nach seinem meisterhaften Altersroman "Ein sterbender Mann" legt der fast 90-jährige Martin Walser nach: "Statt etwas oder Der letzte Rank". Wieder ein Roman. Ein völlig anderer. War dieser, aus dem er bei den Literaturtagen Ingolstadt im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Übersetzerin Thekla Chabbi, las, spannend wie ein Krimi, ist der neue der Rückblick auf gelebtes Leben. Das eines Schriftstellers, das Walsers. Die Ereignisse, auf die der Ich-Erzähler schaut, die er noch einmal durchlebt, nachempfindet, über die er nachdenkt und bewertet, sind schnell mit Walser in Verbindung zu bringen ebenso wie die Mit- und Gegenspieler ("Feinde" nennt er sie) ohne Mühe ausfindig zu machen sind.

Das, obwohl der Ich-Erzähler nur wenige Namen nennt. "Geständnishaftes gehört in die dritte Person", heißt es in Kapitel 8. Oder - die Begegnung und das Gespräch mit einer Schriftstellerkollegin: "Das seien eben die wirklichen Namen derer, die in ihren Romanen dann ganz anders hießen." Auch braucht der große Kritiker, "Jener", der dem Autor zusetzt, keinen explizit ausgesprochenen Namen. Da die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" genannt wird, weiß man, dass es sich um Marcel Reich-Ranicki handelt.

Das Verortbare und zeitlich Fixierbare dienen dazu, Innenschau zu halten - auf Gefühle, Gedanken, Reaktionen, die durch die öffentlich ausgetragenen Kämpfe und Debatten wie nach Walsers umstrittener Paulskirchenrede (1998), in der er von einer "Instrumentalisierung des Holocaust" sprach, ausgelöst wurden. Walser erzählt von sehr Menschlichem, vom Dilemma des Individuums, sein Selbstbild mit dem Fremdbild in Übereinstimmung zu bringen, eigene Wünsche und Hoffnungen Wirklichkeit werden zu lassen: "Jeder kämpfte darum, der zu sein, der er gern wäre. /. . . Er erlebt die Welt als die Summe aller Kräfte der Verhinderung. Damit kann sich keiner abfinden. Jeder entwickelt Sprachen und Handlungen, um die von der Welt produzierte Verhinderung zu überwinden."

Er erzählt auch vom Begegnen, vom Lieben und einander Verlieren der Geschlechter. Es ist eines seiner Hauptthemen seit den "Ehen in Phillipsburg" (1957). Auch hier sind die biografischen Andeutungen deutlich, lassen sich die Szenen aber auch ohne Faktenforschung lesen. "Sie redeten einander zuliebe. Jeder sagte, was der andere hören wollte. Jeder verschwieg, was die Nähe stören konnte. Jeder wusste, dass der andere mehr dachte, als er sagte. Jeder wollte vom anderen alles erfahren. Er von ihr. Sie von ihm. /. . ./Die Nähe wurde ein Kunstprodukt."

Walser schreibt klar, witzig, selbstironisch, nicht weinerlich (wie ihm oft vorgeworfen wurde): "Ich wollte mir nicht verloren gehen. Jeder hängt an sich." Und an dem, was ihn ausmacht, kann hinzugefügt werden. Hier ist es ein Schriftsteller, der mit Wörtern, mit Sätzen komponiert, reine Sprache anstrebt. Es entstehen wunderschöne, wundersame, wunderliche Bilder. Dazu streut er Gedichte ein wie jenes, "Nachtgebet" betitelte: "Sei so gut und lass dich träumen / trag einen goldenen Schal / geh auf Absätzen aus Eis / und sag ein paar Wörter / die's an keinem Tag mehr gibt / ich will sie mir merken".

Den Roman durchzieht ein wiederholtes "Mir geht es gut". Mit Walser ist zu rechnen. Es soll nicht "Der letzte Rank", die letzte "Wendung", des Schriftstellers sein.

Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank, Rowohlt-Verlag, 176 Seiten, 16,95 Seiten.