Ingolstadt
Plädoyer für mehr Menschlichkeit

Saisonauftakt im Jungen Theater Ingolstadt: Markolf Naujoks bringt Janne Tellers "Kriegs"-Essay auf die Werkstattbühne

09.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:12 Uhr

In Janne Tellers Gedankenexperiment "Krieg. Stell dir vor, er wäre hier" dreht sie die Verhältnisse einfach um. Und Olivia Wendt, Paula Gendrisch und Benjamin Kneser spielen "Masters of War". - Foto: Olah

Ingolstadt (DK) Am Anfang ist es ein Spiel: Stell dir vor, es wäre Krieg. Hier. In Deutschland. Europa ist im Chaos versunken. Überall nur Ruinen und Staub und Tod und Angst. Man munkelt etwas von Geheimpolizei. Menschen verschwinden. Entweder bleiben sie fort. Oder sie kehren zurück, gebrochen, geschunden. Du hast nicht viele Möglichkeiten: Entweder du versteckst dich. Oder du gehst in den Untergrund - und kämpfst. Oder du fliehst. Aber wohin? Gesetzt, die Flucht gelänge. Ein Land wie Ägypten nähme dich auf. Was erwartet dich dort?

Fremdheit. Misstrauen. Bist du überhaupt ein richtiger Flüchtling? Dein Asylantrag wird geprüft. Das dauert. Du bist zum Nichtstun verdammt. Im Wartesaal der Hoffnungslosigkeit wächst die Wut. "Es ist, als hätte dir jemand zwei Jahre deines Lebens gestohlen." Und selbst wenn du dort Asyl bekommst, lernst, dich zu verständigen, dich einrichtest in den neuen Verhältnissen - der Schmerz bleibt. Und die Sehnsucht - nach zu Hause.

"Krieg. Stell dir vor, er wäre hier", hat Janne Teller ihren Essay genannt, den Regisseur Markolf Naujoks zum Auftakt der Spielzeit des Jungen Theaters Ingolstadt am Freitagabend auf die Werkstattbühne brachte. Die dänische Autorin wagt hier ein Gedankenexperiment, indem sie unsere Alltagswirklichkeit auf den Kopf stellt und den Krieg in der aufgeklärten westlichen Welt stattfinden lässt. Durch die Umkehrung der Verhältnisse schafft sie Unmittelbarkeit - und auch Distanzverlust. Das jugendliche Publikum (ab 14 Jahre) ist auf Du und Du mit den jugendlichen Protagonisten.

Das Problem: Es ist kein theatraler Text. Der Regisseur muss Situationen, Dialoge, eine Bühnenästhetik erfinden. Naujoks lässt "Krieg" als Spiel beginnen. Die drei Schauspieler Paula Gendrisch, Olivia Wendt und Benjamin Kneser schlüpfen in die Rollen ihrer jüngeren Ichs, sitzen auf Stühlen im Zentrum des Raums, fast schon bedrängt vom Publikum, das auf beiden Seiten Platz genommen hat. Das Spiel der drei heißt "Masters of War" und beginnt mit harmlosen Fragen. Stell dir vor, es wäre Krieg - wohin würdest du fliehen? Wer ist dir am wichtigsten? Was würdest du am meisten vermissen? Jeder gestattet sich eine kleine Privatheit, erzählt von Momenten des Glücks und der Geborgenheit - vom Haus der Großeltern, von einer verrückten, trunkenen Nacht zu zweit. Aber das Spiel mit der Imagination ist tückisch. Und die drei übertrumpfen sich im Erfinden von Schreckensszenarien, die man als Begleiterscheinungen des Krieges kennt: Verrohung, Vergewaltigung, Folter, Entmenschlichung. Aber weil diese Szenarien nun angebunden sind an Schwester, Bruder, Mutter, Großeltern werden sie plötzlich nah und unmittelbar und grauenvoll. Persiflierte man zuvor noch die inflationären wie sinnfreien TV-Liveschaltungen aus dem Bombeninferno, setzt man nun auf Schockwirkung. Fordert Empathie ein. Anscheinend hat Regisseur Naujoks Tellers Text nicht ganz vertraut. Dieser umgedrehten Flüchtlingsgeschichte, die eigentlich aus der Sicht eines Jugendlichen und seiner insgesamt fünfköpfigen Familie erzählt wird und den Raum öffnen will nicht nur für das Fremde, sondern auch für das Sich-selbst-fremd-Fühlen. Naujoks bricht Stücke heraus (spart beispielsweise das Thema Religion aus), führt sie vom Konkreten ins Allgemeine, mischt sie mit grundsätzlichen Betrachtungen über den Krieg und die Bestie Mensch. Der Tod hat seine Meister überall auf der Welt. So gibt es etwa einen kleinen (und sehr witzig inszenierten) Exkurs über die Kalaschnikow AK 47 - den russischen Exportschlager noch vor Kaviar und Tolstoi. Mit keiner anderen Waffe wurden mehr Menschen getötet. Keine andere ist dabei zum ikonografischen Symbol geworden. Es gibt Kriegsgeschrei und Klagelieder.

Und während Paula Gendrisch, Olivia Wendt und Benjamin Kneser als maskenhaft geschminkte Untote ein Requiem auf die Menschlichkeit anstimmen, laufen Schwarz-Weiß-Bilder über Leinwände: tumbe Kämpfer, Menschenmaterial im Gleichschritt, zerstörte Städte, Gloria Victoria, Planet der Affen, Nachrichten von der dunklen Seite des Mondes (Ausstattung, Illustration, Video: Marina Stefan und Theda Schoppe).

Das ist assoziationsreich und spannend und poetisch gemacht und entwickelt zusammen mit der Musik, die romantisch drängt und dräut, einen Sog, dem man sich gar nicht entziehen kann. Trotzdem ist die Inszenierung dann am stärksten, wenn der Text klingen darf - in seiner Klarheit. Mit all seinen Pausen zum Nachdenken. "Stell dir vor" - das ist vor allem eine Aufforderung zur eigenen Imagination. Wer den Text hört, denkt die Bilder aus den Nachrichten gleich mit, die Flüchtlingsströme, die Krisen- und Kriegsgebiete, die Toten, auch die radikalen Parolen, die Brandanschläge, den Mob, die Hilflosigkeit, die eigenen Vorbehalte. Aber die Inszenierung öffnet weitere Gedankenräume.

Naujoks hat ein fabelhaftes Schauspielensemble, das äußerst musikalisch ist (Einstudierung: Olivia Wendt) und mit Fagott, Klavier, Geige und Gesang gleichermaßen zu betören versteht wie durch intensives Spiel. Dafür gibt es nach etwa 70 Minuten Bravorufe und langen Applaus. "Krieg" ist ein eindringliches Plädoyer für Humanität.

Die nächsten Vorstellungen sind am 15., 16., 21., 22. und 31. Oktober. Kartentelefon (08 41) 30 54 72 00.