Peter Steuart sah die große Not

Waisenhausstiftung vor 400 Jahren gegründet – Kinder mussten von „Georgi bis Michaeli“ barfuß laufen

19.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:46 Uhr
Die Urschrift der Stiftungsurkunde der Peter Steuart Waisenhausstiftung von 1617. Stiftungsurkunde Waisenhausstiftung Ingolstadt 1617 Repro Stadtarchiv −Foto: Ulli Rössle / Repro Stadtarchiv / Stadt Ingolstadt (Stadtarchiv Ingolstadt)

Ingolstadt (DK) Ihr 400-jähriges Bestehen feiert die Ingolstädter Waisenhausstiftung am morgigen Freitag, 21. Juli, auf dem Gelände des Peter-Steuart-Hauses. Es ist die älteste ihrer Art in Oberbayern.

Bis zum Jahre 1617 gab es in Ingolstadt keine Einrichtung für allein gebliebene Kinder. Waren keine Verwandten vorhanden, wurden die Kinder im Spital untergebracht. Sobald sie arbeiten konnten, wurden sie in Handwerkerfamilien vermittelt, wo sie meist als billige Arbeitskräfte missbraucht wurden. Der Geistliche Peter Steuart sah die Not dieser Kinder und stiftete aus seinem Privatvermögen ein Waisenhaus, das im Haus Nr. 563 in der heutigen Steuartstraße untergebracht war.

In einem mehrseitigen Stiftungsbrief, der im Stadtarchiv aufbewahrt wird, legte der Stifter ganz genau fest, wer im Waisenhaus aufgenommen werden durfte. „Arm mussten die Kinder sein, unerzogen, vater- und mutterlos und von Bürgersleuten in rechter Ehe gezeugt.“ Außerdem war auch festgelegt, dass die Waisenkinder von „Georgi bis Michaeli“ barfuß laufen mussten, um Schuhwerk zu sparen. Die Sonn- und Feiertage waren hiervon ausgenommen. Die Kinder mussten im Sommer um 5 Uhr aufstehen, im Winter um 6 Uhr. Die Knaben wurden im Waisenhaus so lange behalten, bis sie zu „ehrlichen Künsten und Handwerken“ zu lernen, die Mädchen bis sie zum Dienen qualifiziert seien.

„Gerübige Leute, die entweder gar keine Kinder oder doch die selbigen nicht mehr bei sich hatten, nicht zu jung und nicht zu alt und eines guten Rufes und eines ehrbaren Wandels.“

Anforderungen an Waisenvater oder Waisenmutter unter Stiftungsgründer Peter Steuart

Gleichzeitig mit dem Stiftungsbrief gab Steuart auch eine eigene Ordnung für die Aufsicht der Stiftung durch die Stadt und die Universität. Um die sittlich ethischen Belange sollte sich der Pfarrer von St. Moritz kümmern. Die Erziehung und Pflege der Kinder besorgten ein Waisenvater und eine Waisenmutter. Es sollten dies „gerübige Leute sein, die entweder gar keine Kinder oder doch die selbigen nicht mehr bei sich hatten, nicht zu jung und nicht zu alt sein und eines guten Rufes und eines ehrbaren Wandels sein“. Vor Aufnahme ihrer Tätigkeit mussten sie einen Amtseid schwören.

Im Oktober 1618 verließ Steuart Ingolstadt und ging zurück in seine Heimatstadt Lüttich, wo er 1624 im Alter von 78 verstarb. Sein Denkmal, das er sich zu Lebzeiten anfertigen ließ, steht in der Kirche St. Moritz.

1808, also zur Zeit der Säkularisation, wurde das Waisenhaus per kurfürstlichem Dekret geschlossen. Das Stiftungsvermögen blieb erhalten. Die zehn Kinder wurden in Privatpflege untergebracht. Dabei wurden sie an die am wenigsten Kostgeld nehmenden Handwerkerfamilien „verauktioniert.“

Schon bald gab es unter der Bürgerschaft Bestrebungen, wieder ein neues Waisenhaus zu betreiben, weil etliche Waisenkinder körperlich, geistig und seelisch verwahrlost waren. Über mehrere Jahre hin erstreckten sich die Bemühungen. Den endgütigen Durchbruch brachte die Zusage des Ordens der Armen Schulschwestern, die Leitung des Hauses zu übernehmen. 1841 kam es zum Abschluss eines Vertrags, in dem vereinbart wurde, dass der Orden die Betreuung der Mädchen übernimmt. Mit der Einweihung des Waisenhauses in der Sommerstraße im Februar 1873 wurden auch die Knaben aufgenommen. Außerdem wurde eine Kleinkinderbewahranstalt (Kindergarten) eröffnet.

Nachdem dieses Gebäude über 100 Jahre seinem Zweck gedient hatte und die baulichen Zustände immer unzumutbarer wurden, beschloss der Stadtrat 1973 den Neubau eines Kinderheimes in der Herschelstraße.

Ein jäher Einschnitt in die Struktur des Heimes und ein herber Verlust war die Abberufung der Armen Schulschwestern wegen Nachwuchsmangels im August 1990.

Das Peter-Steuart-Haus für Kinder, Jugendliche und Familien, wie die Einrichtung inzwischen heißt, hat sich zu einer innovativen Jugendhilfeeinrichtung mit bedarfsgerechten stationären, teilstationären und ambulanten Hilfsangeboten entwickelt. Waisenkinder gibt es heute keine mehr im Peter-Steuart-Haus. Betreut werden Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, in ihrer seelischen Entwicklung einen besonderen Förderbedarf haben. Außerdem werden über 100 Kita-Kinder betreut.