Ingolstadt
"Perverse, obszöne Zote"

1929 verursachte Fleißer einen Skandal - eine Lesung blickt darauf zurück

24.03.2019 | Stand 23.09.2023, 6:21 Uhr
Ingrid Cannonier und Sascha Römisch beleuchteten mit zeitgenössischen Texten und Brecht-Songs den Skandal um Marieluise Fleißers "Pioniere in Ingolstadt". −Foto: Hammerl

Ingolstadt (DK) Welch ein Skandal!

Da erdreistet sich doch tatsächlich eine "schlimmere Josephine Baker der weißen Rasse - im dicksten sexuellen Ur- und Affenwald", noch dazu Tochter eines ehrbaren Geschäftsmannes aus Ingolstadt, ihre Heimatstadt in Misskredit zu bringen. So sahen es jedenfalls die Kritiker Marieluise Fleißers, nachdem deren bittere Komödie "Pioniere in Ingolstadt" am 30. März 1929 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin aufgeführt worden war und eine heftige Debatte ausgelöst hatte.

Fast auf den Tag genau 90 Jahre später beleuchtet Literaturwissenschaftlerin Martina Neumeyer gemeinsam mit den Schauspielern Ingrid Cannonier und Sascha Römisch in einer Lesung im atmosphärischen Dachgeschoss des Herzogkastens Hintergründe und Verlauf des Skandals, der letztlich sogar vor Gericht ausgetragen wurde. Begleitet von Brigitte Pinggéra am Klavier gelingt eine wunderbar dichte Textpräsentation, aufgelockert durch vier eingängige Songs aus der Feder Bertolt Brechts, komponiert von Kurt Weill. Ingrid Cannoniers charaktervolle Stimme erweist sich als höchst wandelbar, klingt in jedem Song anders, herb im Bilbao-Song, sehnsüchtig im Barbara-Song, melancholisch-kämpferisch im Surabaya-Johnny-Song.

Neumeyer hat eine Vielzahl zeitgenössischer Texte über den Skandal so kunstvoll verwoben, dass die einstündige Lesung ebenso informativ-bildend wie unterhaltsam ausfällt. So kommt die Dramatikerin selbst zu Wort, erinnert sich an ihre Eindrücke von Berlin, wohin sie reiste, nachdem Brecht das drei Jahre zuvor geschriebene und 1928 in Dresden uraufgeführte, aber gefloppte Theaterstück erfolgreich dem Theater am Schiffbauerdamm angetragen hatte. Einen Skandal hatte es damals in Dresden nicht ausgelöst, war aber immerhin 70-mal in Zeitungen und Feuilletons besprochen worden. "Klatscher und Pfiffer traten gegeneinander an", erinnert sie sich. Auf das, was sie in Berlin erwartete, war die damals 28-Jährige dennoch nicht vorbereitet. Brecht hatte sich offenbar für das Theaterstück eingesetzt, um es zu politisieren. Er "kaperte die Regie", wie sie schreibt und befahl ihr "ändern". Sie gehorchte und so wurde die Handlung gestrafft und gepfeffert. Fleißer erkannte, dass ihre Texte zu leise für die Bühne waren. So wurde aus ihrem Lustspiel, das den Schwerpunkt auf das Zwischenmenschliche gelegt hatte, eine kunstpolitische Waffe. Die stieß nicht nur dem Berliner Polizeipräsidenten Bernhard Weiß, der eine Entschärfung verlangte und mit Aufführungsverbot drohte, sondern auch dem Ingolstädter Bürgermeister Friedrich Gruber sauer auf. Ihn verklagte die Fleißer wegen Beleidigung - und erhielt Recht. Die "Ingolstädter Zeitung", die zwar keinen Redakteur nach Berlin entsandt hatte, aber eifrig in die negative Kritik einstimmte, forderte die Autorin in einem offenen Brief im "Berliner Tageblatt" auf, nach Berlin zu kommen und sich das Werk anzusehen.

Kurt Pinthus schrieb im April 1929, das Stück dürfe nicht verboten werden, es beschreibe ja nur, wie unberührt das Herz eines Mannes bleibe, während das der Frau ergriffen werde. Begeistert zeigte sich Alfred Kerr im "Berliner Tageblatt", der Fleißer eine "einzigartige Sprachkünstlerin" nennt, eine "hellsichtige Beobachterin von übertünchter Raubtierschaft im hiesig-heutigen Mittelalter". Sie müsse weiter malen dürfen, wie es zwischen Soldaten und Dienstmädchen in oder außerhalb Bayerns zugehe, fordert er, räumt aber ein, "Ehrenbürgerin von Ingolstadt wird sie damit bestimmt nicht". Die Moral verletzt sah ein Teil des Publikums und der Rezensenten unter anderem deshalb, weil Brecht die bei Fleißer ursprünglich nur angedeutete Szene der Entjungferung des Dienstmädchens in eine Kiste auf die Bühne verlegt hatte, die verdächtig zitterte. Julius Knopf von der "Berliner Börsenzeitung" nannte das Stück eine "perverse, obszöne Zote mit konzertierten Widerwärtigkeiten" und kommentierte, die Verfasserin müsse sich fragen lassen, wie es um ihre Psyche stehe. Diese Verunglimpfung ihrer Person war es, die der Fleißer zu schaffen machte, zudem fühlte sie sich von Brecht im Stich gelassen. Der hatte die Reaktion offenbar einkalkuliert und sich ohnehin zur Gewohnheit gemacht, nicht auf Kritiker zu reagieren.

Andrea Hammerl