Perfekt will der Murciélago Roadster nicht sein

17.12.2007 | Stand 03.12.2020, 6:16 Uhr

(DK) 600 Modelle werden weltweit pro Jahr verkauft. Eines davon in freier Wildbahn zu erleben, ist so fast ausgeschlossen. Sehr viele verschwinden in privaten Tiefgaragen, ebensolchen Sammlungen oder elitären Showrooms. Und wenn dann doch mal einer auftaucht, ist er auch gleich wieder weg.

Die Exklusivität seines Anblicks auf deutschen Straßen ins nahezu Unermessliche steigert der Roadster des LP 640. Offen "nur" 330 km/h schnell, dafür aber mit 286 790 Euro rund 25 000 Euro teurer als das Coupé, wird der Roadster für den Besitzer zum wahren Abenteuer. Verdeck herunter basteln und später wieder drauf pfriemeln – spannender kann modernes Autofahren nicht sein.

Damit sind wir auch schon beim größten Mangel: Man merkt dem Roadster an, dass bei der Konstruktion des Coupés niemand daran gedacht hat, später könne ein Cabrio nachgeschoben werden. Sieht man das "Dach" aus Gestängen, Klettverschlüssen, Verschraubungen und Stoffbahnen, könnte man meinen, da hätte ein Ingenieur eine Strafarbeit erledigen müssen, mit der er die späteren Besitzer ein wenig ärgern wollte. Mit etwas Einfallsreichtum, der englischsprachigen Beschreibung als Unterlage beim Knien neben dem Auto und einem hilfreichen Nachbarn schafft man es beim ersten Mal in rund 15 Minuten – sofortige Dusche und Kleidungswechsel sind danach obligatorisch.

Aber wenn er dann offen dasteht, tief geduckt, weiß oder orangefarben lackiert, auf mächtigen Felgen, mit wuchtigen Endrohren und gigantischen Lufteinlässen, spürt man, was er will und kann. Der italienische Stier schneidet durch das Land wie ein Keramikmesser.

Der Stier – als Sternzeichen – ist ein bodenständiger, verlässlicher und (fast immer) gemütlicher Zeitgenosse, der Ruhe und Kraft gleichermaßen ausstrahlt. Da passt der Murciélago praktisch gar nicht ins Bild: Bodenständig? Niemals. Ruhe strahlt er nicht mal im Stand aus, Kraft dafür reichlich. Gemütlich ist er nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann legt ein Zwölfzylinder-Tornado ungehemmt los. 640 PS mobilisiert der 6,5-Liter-Treibsatz, das Drehmoment von 660 Nm ist ebenso Garant für brachialen Vorschub. Wer nicht wirklich gut Autofahren und zugleich seine Grenzen nicht rechtzeitig erkennen kann, sollte sich im LP 640 maximal auf den Beifahrersitz begeben.

Jungfrau am Steuer

Da trifft es sich gut, wenn der LP-640-Pilot eine Jungfrau ist. In diesem Sternzeichen Geborenen sagt man Realitätssinn nach, sie seien selten unüberlegt, meistens sachlich und stets bemüht, objektiv zu bleiben. Das erspart vielleicht so manche Reparatur. Denn die Anbauteile – und sei es nach einem noch so kleinen Rempler beim rückwärts Einparken – sind einfach nur teuer.

Kritikpunkte? Die gibt’s. Eine Hupe, die so gar nicht zum brüllenden Zwölfzylinder, sondern eher zu einem 1,4-Liter-Vierzylinder passt. Dann der Tankdeckel, der kaum noch schließt, wenn er mal heftig aufgerissen wurde. Zu wenig Kopffreiheit? Zu wenig Zuladung? Nicht erkennbare Übersichtlichkeit? Kein ESP? Extrem hoher Verbrauch? Hohe Unterhaltskosten? Ja, ja, das stimmt wirklich alles. Aber wir wollen mal nicht so sachlich urteilen, sondern uns etwas emotionaler geben.

Der Kofferraum ist ausreichend groß für eine Wochenende-zu-zweit-Tour. Auch der Komfort langt für ein paar hundert Kilometer am Stück. Die Durchzugskraft und den Vortrieb haben wir bereits mit exzellent bewertet, dazu gesellt sich die dank des permanenten Allradantriebs überragende Traktion. Der Sound des Motors ist unvergleichlich (schön, dass man ihn ohne Dach so gut genießen kann). Der Lambo ist trotz rund 1700 Kilogramm superagil und überraschend handlich. Die Lenkung arbeitet mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks, und die Bremsen sind das Beste, das dem Innenleben der 18-Zoll-Felgen passieren kann. Was waren nochmal die Kritikpunkte

Fitness tut gut

Weiter zum Offenfahren – denn mit installiertem Pfriemel-Notverdeck ist bei Tempo 200 Schluss, weil sonst der "Regenschirm" wegfliegt, während irgendein TDI-Vehikel links vorbei pfeilt. Wäre das peinlich – selbst für die sachliche Jungfrau. Auf die Autostrada also nur bei wolkenlosem 25-Grad-Celsius-Sonnenschein zwischen Nordnorwegen und Kalabrien. Gerne mit an Bord: Ricardo Cocciante mit L’Alba,. Passt super zum Murciélago.

Wer nicht nur auf der Schnellstraße, sondern auch beim Ein- und Aussteigen eine gute Figur abgeben möchte, ebenso beim Rangieren im innerstädtischen Verkehr (wer macht denn so was), dem empfiehlt sich, gleichzeitig mit dem Kaufvertrag auch den Aufnahmeantrag des Fitnessstudios zu unterschreiben. Bis der Roadster geliefert wird, können die Beweglichkeit und auch die Ausdauer in den Oberarmen den Anforderungen angepasst werden.