Berlin
Parlament mit leeren Rängen

Entscheidung zum Meldegesetz löst Fragen nach Beschlussfähigkeit des Bundestages aus

10.07.2012 | Stand 03.12.2020, 1:17 Uhr

Vergeblicher Widerstand: Das Bild aus einem Video zeigt Abgeordnete bei der Abstimmung über das Meldegesetz am 28. Juni 2012 im Bundestag in Berlin. - Foto: Bundestag/dapd

Berlin (DK) Politik paradox? Das umstrittene Meldegesetz wurde vor fast leeren Rängen im Bundestag durchgewunken, das Betreuungsgeld konnte unlängst im Parlament wegen Beschlussunfähigkeit nicht debattiert werden, obwohl mehrere hundert Parlamentarier zugegen waren. Die Tücken der Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) machen es möglich.

Im Allgemeinen werden die Mehrheitsverhältnisse im Parlament respektiert, wird ohne Kniffe abgestimmt. Die schwarz-gelbe Koalition stellt mehr als die Hälfte der 620 Abgeordneten des Bundestages, hat damit die sogenannte Kanzlermehrheit zur Wahl des Regierungschefs und kann bei Vollzähligkeit stets Gesetze gegen die Opposition beschließen. Beschlussfähig ist der Bundestag, „wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal sind“.

Wäre die Abstimmung zum Meldegesetz vor nahezu leeren Rängen also nicht ohnehin ungültig? Keineswegs. In der parlamentarischen Praxis wird unterstellt, dass der Bundestag zunächst einmal beschlussfähig ist, auch wenn erkennbar weniger als die Hälfte der Abgeordneten anwesend sind. Schließlich ist der Bundestag ein Arbeitsparlament, bei dem Abgeordnete außerhalb der Kernzeit, in der Anwesenheitspflicht herrscht, in Ausschüssen oder im Büro arbeiten. Ihr Job besteht nicht darin, stets im Plenarsaal präsent zu sein. Eine Beschlussunfähigkeit muss daher formell festgestellt werden. Wenn Abgeordnete oder Fraktionen eine Abstimmung über ein Gesetz wegen mangelnder Präsenz von Abgeordneten im Plenarsaal stoppen wollen, muss dies beim Bundestagspräsidium beantragt werden. Dann wird jedoch keineswegs auf der Stelle vom Präsidium durchgezählt und bei weniger als 311 Anwesenden Beschlussunfähigkeit festgestellt: Das Präsidium ordnet stattdessen den sogenannten Hammelsprung an. Alle Abgeordneten verlassen den Saal und treten durch verschiedene Türen für „Ja“, „Nein“ und „Enthaltung“ wieder ein und werden dabei gezählt.

Ganz anders im Fall Meldegesetz. Niemand störte sich am 28. Juni daran, dass nur 26 Abgeordnete anwesend waren. Damit galt der Bundestag als beschlussfähig.

Unterdessen hat sich die Europäische Kommission unerwartet in den innerdeutschen Streit um das neue Meldegesetz eingeschaltet. Sie sei „überrascht, dass einige deutsche Politiker die Profitinteressen von hiesigen Werbeunternehmen vor das Grundrecht der Bürger auf Datenschutz stellen“, sagte EU-Justizkommissarin Viviane Reding gestern in Brüssel. Sie kritisierte, der Staat verlange strenge Datenschutzauflagen von Unternehmen wie Facebook und Google, „während er selbst einen Ausverkauf des Datenschutzes an die Privatwirtschaft betreibt“.