Ingolstadt
Pandemie verschärft Probleme

Bürgerredaktion recherchiert: Chancengleichheit in der Bildung bei Homeschooling und Wechselunterricht

06.04.2021 | Stand 23.09.2023, 17:50 Uhr
Maike Brok
Homeschooling kann das Lernen erschweren und so Chancengleichheit in der Bildung verringern. −Foto: Tack,dpa

Ingolstadt - Es ist 7.55 Uhr.

 

Die erste Videokonferenz des Tages beginnt in fünf Minuten. Also Zeit, das warme Bett zu verlassen und ab an den Schreibtisch. Umziehen, Zähne putzen und der andere Kram haben noch Zeit - die Kamera bleibt ohnehin aus. Was für viele Schüler im März 2020 noch verlockend klang, wurde mit der Zeit zur Belastungsprobe. Denn im Homeschooling leidet nicht nur das soziale Miteinander, sondern auch das Lernen selbst. Doch nicht alle sind gleichermaßen davon betroffen - was bedeutet das für die Chancengleichheit in der Bildung?
Im Idealfall sitzt man um 7.55 Uhr alleine am Schreibtisch. Doch nicht alle Kinder und Jugendlichen haben einen eigenen Arbeitsplatz. Und der Küchentisch mit Geräuschkulisse der kleinen Geschwister eignet sich nur schlecht als Lernort. Sanja Frommann, Gymnasiallehrerin und Sonderpädagogin aus der Region Ingolstadt, berichtet davon, wie sich das auf Videokonferenzen auswirkt: "Man ist in dem Moment selbst total irritiert von den Hintergrundgeräuschen. Dann muss ich mir umgekehrt überlegen, dass der Schüler das die ganze Zeit so erlebt. " Sie betont, dass die Coronakrise und das damit einhergehende Homeschooling die Situation für Schüler und Lehrer erschwert.

Krassimir Stojanov, Professor am Lehrstuhl für Bildungsphilosophie und Systematische Pädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, forscht schon jahrelang zu den Themen Bildung und Gerechtigkeit. Er stimmt der Lehrerin zu: "Der Onlineunterricht fordert viel mehr Selbstständigkeit der Kinder und dabei sind sie auf die Unterstützung der Eltern angewiesen. "
Sanja Frommann fällt es momentan schwer, die Ursachen von schulischen Problemen einzuschätzen - zum Beispiel, wenn ein Schüler die Aufgaben im Fernunterricht nicht abgibt. "Da sind so viele Aspekte mit zu beleuchten: Warum hat er es nicht gemacht? Hat das Internet funktioniert? Hat er es alleine nicht geschafft? Und manchmal geht es einem auch einfach nicht gut. " Umso wichtiger, dass die Schüler Unterstützung von ihren Eltern erfahren: Dabei kommen allerdings die unterschiedlichen Kapazitäten der Familien zum Vorschein. Während die eine Mutter für ihr Kind das Bioreferat macht, schreibt das andere Kind den fünften Hefteintrag vom Computerbildschirm ab, weil es zuhause keinen Drucker gibt.

Um zumindest einen Teil der technischen Ausstattung auszugleichen, bieten manche Schulen in der Region Leih-Tablets an. Laut Krassimir Stojanov beginnt die Bildungs-Ungleichheit mit einfachen Dingen wie eben dem Zugang zu einem Tablet. "Aber es geht weiter mit der Selbstständigkeit der Kinder und somit der Herkunft. "
Ist herkunftsbedingte Ungerechtigkeit etwas Neues? Sicher nicht. Die Coronakrise wirkt wie ein Brennglas. Bestehende Probleme werden durch die Pandemie verdeutlicht und verschärft. So eben auch ungleiche Chancen in der Bildung. "Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit lassen sich am besten negativ bestimmen", erklärt Stojanov. "Es bedeutet, dass wir es dann mit Ungleichheit zu tun haben, wenn die Bildungschancen des einzelnen Kindes von seiner Herkunft abhängen. " Es sei extrem ungerecht, wenn der Bildungserfolg von einem Faktor abhänge, den das Kind selbst nicht beeinflussen könne.

Laut Informationen der Bundesregierung gibt es in Deutschland einen starken Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status des Elternhauses und den PISA-Ergebnissen der Kinder- dieser Einfluss ist in der Studie von 2018 sogar noch stärker als in der Studie von 2015.
Die IGLU-Studie zeigt, dass Chancenungleichheiten im Wesentlichen erst beim Übertritt auf die weiterführende Schule entstehen. Kinder aus unterprivilegierten Familien erhalten bei gleichen Leistungen schlechtere Übertrittsempfehlungen. Stojanov erklärt, dass Lehrkräfte bei dieser "frühkindlichen Selektion" nicht allein nach den Noten des Kindes entscheiden, sondern auch das kulturelle und soziale Kapital der Familie miteinbeziehen.
Das kann im schlimmsten Fall zu einem Schultrauma führen, sagt Stojanov. Wenn Kinder aus schwächeren Familien schon früh zurückgespiegelt bekommen, dass sie wenig oder gar nicht begabt sind, sinkt häufig ihre Bildungsmotivation. Laut dem Bildungsphilosophie-Professor geht es um Anerkennungsgerechtigkeit: "Es geht darum, inwiefern Kinder Anerkennung in Form von Empathie, Respekt und sozialer Wertschätzung erhalten. Beziehungsweise inwiefern sie mit sozialer Missachtung konfrontiert sind - im Sinne von Vernachlässigung, Diskriminierung oder Geringschätzung. "
Stojanov spricht sich deswegen für eine gemeinsame Beschulung bis zum 16. Lebensjahr aus. Im Endeffekt gehe es darum, das Stigma der fehlenden Leistungsfähigkeit zu vermeiden. In Kombination mit einer Ganztagesbetreuung mit Bildungsangeboten sei dies ein vielversprechender Lösungsansatz. So sind verschiedene Leistungsniveaus innerhalb der Gesamtschule durchaus wünschenswert, können allerdings auch fächerspezifisch sein. Studien zeigen, dass auch leistungsstärkere Schüler von einer solchen heterogenen Lerngemeinschaft profitieren. Sowohl Sanja Frommann als auch Krassimir Stojanov fordern zudem mehr Flexibilität und Pädagogik-Inhalte in der Lehrerausbildung, kleinere Klassen und spätere Übertrittsentscheidungen.

 

Um die verstärkte Chancenungleichheit während der Pandemie abzumildern, plädiert Stojanov dafür, dass Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien in Form von beispielsweise Zusatzunterricht Unterstützungsmaßnahmen erhalten. Außerdem empfiehlt er, die Übertrittsentscheidungen zu verschieben oder großzügig auszulegen. Das gleiche gilt für die diesjährigen Abschlussprüfungen.
Wie oft es noch nötig sein wird, sich um 7.55 Uhr vom Bett an den Schreibtisch zu schleppen, weiß niemand. Lehrerin Sanja Frommann bemerkt: "Wir sind alle am Limit. Es braucht Verständnis für alle. Für die Schüler. Für die Eltern. Für die Lehrer. " Verständnis ist nicht nur in Zeiten von Corona wichtig, generell ist es ein wichtiger Baustein für gelungene Bildung.

DK

ZUR AUTORIN
Maike Brok aus Kösching hat im vergangenen Jahr ihr Abitur gemacht. Danach hat die 18-Jährige einen Bundesfreiwilligendienst im Bürgerhaus Ingolstadt begonnen.

Foto: privat

 

Maike Brok