Pfaffenhofen
Ohne Worte

Anita Janßen unterrichtet Gebärdensprache – PK-Volontärin Tanja Stephan hat ihren Kurs besucht

20.03.2014 | Stand 02.12.2020, 22:55 Uhr

„Bist du gehörlos“ übersetzt in Gebärdensprache: Erst zeigt man auf sein Gegenüber, anschließend führt man den Zeigefinger vom Ohr zu den Lippen - Fotos: Kraus

Pfaffenhofen (PK) Eine Welt ohne Ton – für viele Menschen unvorstellbar, für 80 000 Menschen in Deutschland Realität: Sie sind gehörlos. Per Gebärdensprache können sie dennoch am Leben teilhaben. Bei Anita Janßen kann man das Gebärden lernen. PK-Volontärin Tanja Stephan hat ihren Kurs besucht.

„Eine Frau geht die Treppe hinunter.“ Das ist der erste Satz, den ich in Gebärdensprache lerne: „Frau“ sagt man, indem man den Daumen an die Wange hält, den kleinen Finger ausstreckt und dabei mit der Hand eine Drehbewegung nach unten macht. „Treppe hinunter gehen“ wird gebärdet, indem man mit Zeige- und Mittelfinger imaginäre Stufen hinuntergeht. Ist ja einfach, denke ich mir, und erwarte, dass sich unsere Gruppe bald unterhalten kann.

Falsch gedacht. Durchschnittlich drei bis fünf Jahre dauert es, bis man die Deutsche Gebärdensprache (DGS) wirklich gut beherrscht – wenn man fleißig übt. Eigentlich so, als ob man Französisch oder Spanisch lernen würde. Es gibt Vokabeln, Grammatik und die üblichen Ausnahmen, die jeden Sprachschüler regelmäßig in die Verzweiflung treiben.

„Für uns Gehörlose ist die Gebärdensprache unsere Muttersprache“, erklärt Anita Janßen per Gebärden. Sie ist die Leiterin des Kurses, den ich besuche, um zu verstehen, was es heißt, in einer lautlosen Welt zu leben – nach Schätzungen des Deutschen Gehörlosen-Bundes leben in Deutschland etwa 80 000 Gehörlose. Nur in der ersten Stunde ist eine Dolmetscherin dabei und ich kann mir nicht vorstellen, wie der Kurs ohne sie funktionieren soll. Zwar kann man wie „Treppe hinunter gehen“ viele Ausdrücke ableiten, die meisten Gesten kommen mir aber eher vor, als ob wir schlechte Pantomime spielen würden. Doch genau das will Anita vermeiden.

Wir sprechen uns mit „Du“ an. Die Gebärdensprache wird in einer kleinen Welt genutzt, in der sich die meisten persönlich kennen. Noch, denn die Gebärdensprache gewinnt an Ansehen. Das war nicht immer so, lange hatten Gebärdende mit Vorurteilen zu kämpfen. Erst 2002 wurde die DGS durch das Behindertengleichstellungsgesetz anerkannt. „Da wurde endlich erkannt, dass das keine Affen-, sondern eine richtige Sprache ist“, erklärt unsere Lehrerin. „Das war ein befreiendes Gefühl.“

Anita ist 1980 in Schrobenhausen zur Welt gekommen. Vier Wochen später stellte ein Arzt fest, dass sie gehörlos ist – Anita reagierte nicht auf sein Fingerschnippen. Jahrelang konnte sie gar nicht mit ihren Eltern kommunizieren. „Ich war ein sehr wildes Kind, mir konnte ja niemand sagen, was ich tun und lassen sollte.“ Seit 2007 gibt sie deshalb Gebärdensprachen-Kurse, um die Kommunikation mit Gehörlosen zu erleichtern.

Die meisten meiner Gruppe sind Anfänger. Da gibt es zum Beispiel einen Polizeibeamten, der sich im Dienst mit Gehörlosen verständigen möchte. Da ist die Heilpädagogin, die mit entwicklungsverzögerten Kindern Gebärden austauschen will. Da ist die Mutter, die sich endlich an Gesprächen ihrer Tochter und deren gehörlosem Freund beteiligen will. Und da bin ich. Meine einzige Erfahrung mit Gebärden ist die Übertragung von Nelson Mandelas Trauerfeier mit dem falschen Dolmetscher.

Unsere erste Lektion ist das Fingeralphabet. Ich erinnere mich an die Geheimsprache, die ich mir in meiner Kindheit zusammen mit meiner Schwester ausgedacht habe. Die war nur um einiges einfacher als die Gebärdensprache, nach wenigen Buchstaben tun uns die Finger von den Verrenkungen weh. Hausaufgabe: Den eigenen Namen in Gebärden buchstabieren üben. Das sind nur fünf Buchstaben, trotzdem brauche ich für jeden einige Zeit, bis mir die richtige Gebärde eingefallen ist. Bis die Bewegungen flüssig werden, dauert es sicher noch ein Weilchen. „Steife Finger sind am Anfang ganz normal. Man darf nur nicht verkrampfen und ganz wichtig: nicht vergessen, zu atmen“, sagt Anita.

Wir fragen, ob Gehörlose nicht auch von den Lippen ablesen können. Doch wieder stellt sich heraus, dass das ein Irrtum ist. Im Fingeralphabet gibt es 32 Buchstaben (zu den Üblichen kommen Gebärden für „sch“, „ß“ oder die Umlaute hinzu), aber nur elf Mundformen. Eigentlich logisch, dass ich schwer erraten kann, ob mein Gegenüber „Mutter“ oder „Butter“ sagt.

Auch die Grammatik ist gar nicht so leicht. Die Grundregel der Gebärdensprache lautet: Substantiv, Objekt, Verb. „Ich putze das Auto“ heißt ab jetzt also „Ich Auto putzen“. Man zeigt erst auf sich, dann macht man Lenkbewegungen, bevor man so tut, als ob man ein Fenster putzen würde. Aber Achtung: Putzen ist nicht gleich Putzen. „Boden putzen“ und „Brille putzen“ sind wieder zwei völlig unterschiedliche Vokabeln. Leicht zum Verhängnis werden kann es einem auch, wenn man „sterben“ und „taufen“ oder „Nebel“ und „Guten Abend“ durcheinander bringt – ganz schön verzwickt, diese Gebärdensprache.

Dann ist es so weit: Wir erhalten unsere Gebärden-Namen. Es wäre zu umständlich, jedes Mal einen Vornamen zu buchstabieren, wenn man sich über eine Person unterhält. Seinen Gebärden-Namen sucht man sich nicht selbst aus, er ergibt sich aus bestimmten Eigenschaften – zum Beispiel, ob man lange Haare hat oder Ohrringe mag. Ich bin gespannt, was Anita sich für mich ausgedacht hat. Und siehe da: ab sofort heiße ich „Frau Reporterin“. In Zukunft stelle ich mich vor, indem ich die Gebärde für „Frau“ mache und anschließend die Faust zum Mund führe, so, als ob ich in ein Mikrofon sprechen würde.

Unser erstes Gespräch üben wir in einem Rollenspiel. Aus „Wie heißt du“ wird in Gebärdensprache zu „Dein Name was“ – nicht zu vergessen sei das Augenbrauen-Zusammenziehen als Ausdruck einer Frage – und „Bist du gehörlos“ muss ich mir als „Du gehörlos“ merken.

Ich fühle mich in Schulzeiten zurückversetzt, in denen man verzweifelt versucht hat, sich nicht anmerken zu lassen, dass man alle Vokabeln schon wieder vergessen hat. Einzige Erleichterung: Meiner Partnerin geht es genauso und so verwechseln wir gemeinsam die Gebärden für Name und Nachbar – und denken dabei, dass wir das eigentlich schon ganz gut hinkriegen, bis Anita uns immer wieder korrigiert.

Am Ende jeder Unterrichtsstunde wedeln wir mit den Händen in der Luft. Das ist eine Beifall-Gebärde für Anita, damit bedanken wir uns bei ihr für ihre Geduld.

Ich glaube, wir applaudieren uns damit aber auch selbst – für uns Hörende ist es in der Tat eine Herausforderung, 90 Minuten lang kein Wort zu sagen und nur per Gebärden zu kommunizieren.