Ingolstadt
Ohne Behandlung eine Gefahr für die Allgemeinheit

Junger Afghane muss wegen Scheren-Angriffs auf einen Landsmann bis auf weiteres in psychiatrischem Krankenhaus bleiben

02.10.2019 | Stand 23.09.2023, 8:49 Uhr
Symbolbild Landgericht Ingolstadt −Foto: Armin Weigel (dpa)

Ingolstadt (DK) Wegen einer Scheren-Attacke auf seinen Zimmernachbarn im Oberstimmer Ankerzentrum im vergangenen Dezember muss sich ein psychisch kranker abgelehnter Asylbewerber jetzt auf unbestimmte Zeit in einer Fachklinik stationär behandeln lassen. Die 1. Jugendkammer des Landgerichts verurteilte den 21-jährigen Afghanen am Mittwoch wegen eines versuchten Totschlags in Tateinheit mit Körperverletzung in Schuldunfähigkeit zu einer Unterbringung nach Paragraph 63 des Strafgesetzbuches. Das Urteil ist bereits rechtskräftig.

Wie schon Mitte September bei Prozessauftakt berichtet, war der Vorfall in der früheren Max-Immelmann-Kaserne von der Staatsanwaltschaft zunächst als Mordversuch bewertet worden. Allerdings hatte auch die Ermittlungsbehörde aufgrund bereits vorliegender medizinischer Erkenntnisse eine Steuerungs- und Schuldunfähigkeit des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt angenommen, weshalb es sich nicht um einen klassischen Strafprozess mit Anklageschrift, sondern um ein sogenanntes Sicherungsverfahren gehandelt hat.

Der Afghane, der sich wegen seiner psychischen Auffälligkeit nicht mehr in U-Haft befindet, sondern per richterlichem Beschluss schon länger vorläufig im Bezirkskrankenhaus Straubing untergebracht ist, hatte den Angriff auf einen 19-jährigen Landsmann in dem gemeinsamen Wohnraum vor Gericht durchaus eingeräumt, jedoch eine Tötungsabsicht bestritten. Dabei war die Attacke mit einer Bastelschere in Richtung Hals des in seinem Bett dösenden Zimmernachbarn grundsätzlich durchaus geeignet gewesen, diesen sehr gefährlich, wenn nicht tödlich zu verletzen.

Das hatte ein Gutachter der Kammer bestätigt. Der Expertise zufolge hatte der Geschädigte großes Glück, den Scherenstoß mit einer instinktiven Abwehrbewegung abgelenkt zu haben, so dass er nur unwesentlich am Ellenbogen verletzt worden war.

Die Kammer hatte bereits am vorletzten Verhandlungstag rechtliche Hinweise gegeben, wonach die Beweisaufnahme auch zum rechtlichen Ergebnis eines versuchten Totschlags oder gar "nur" einer Körperverletzung führen könne. Staatsanwalt Frank Nießen erkannte nun in seinem sehr ausführlichen Plädoyer, in dem er alle denkbaren Aspekte des Falles würdigte, letztlich einen versuchten Totschlag, der allerdings im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen worden und deshalb nicht mit einer Haftstrafe zu ahnden sei.

Der Ankläger berief sich zur Begründung auf das Attest des psychiatrischen Gutachters, der beim Beschuldigten eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert hatte. Die Tat habe der Asylbewerber begangen, weil er vorausgegangene alltägliche Ereignisse krankheitsbedingt fehlgedeutet und überreagiert habe. Mit Blick auf nicht auszuschließende künftige Gewaltausbrüche des jungen Afghanen forderte Nießen eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Pflichtverteidiger Thilo Bals (Manching) beschritt in seinem Schlussvortrag einen anderen Weg: Er erkannte wegen der tatsächlich letztlich vergleichsweise geringfügigen Verletzung des Opfers auf eine im Zustand der Schuldunfähigkeit begangene Körperverletzung. Der Rechtsanwalt hielt eine stationäre Behandlung seines Mandanten, der inzwischen Medikamete gegen seine Erkrankung einnimmt, nicht unbedingt für angezeigt. Das Gericht, so sein Antrag, möge vielmehr durch Auflagen sicherstellen, dass der junge Mann seine Medikation konsequent fortführe.

Die Jugendkammer mochte dem nicht folgen. Sie erkannte vielmehr wie die Staatsanwaltschaft auf versuchten Totschlag in Tateinheit mit Körperverletzung, beides begangen im Zustand tatsächlicher Schuldunfähigkeit. Für die ursprüngliche Einschätzung der Ermittlungsbehörde, es habe sich bei der Tat um einen Mordversuch gehandelt, habe das Gericht keinen Anhaltspunkt gefunden, so Vorsitzender Thomas Denz in der Urteilsbegründung. Es fehle schlicht an dem Mord(versuchs)merkmal der Heimtücke, das in der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft noch aufgeführt worden war. Vielmehr sei der Beschuldigte aufgrund seiner Erkrankung nicht planmäßig vorgegangen. Grundsätzlich sei aber der objektive Tatbestand einer versuchten Tötung nicht zu verkennen.

Dass das eingesetzte Werkzeug durchaus geeignet war, den Landsmann des Beschuldigten tödlich zu verletzen, betonte die Kammer ausdrücklich. Vorsitzender Denz: "Unsere Kinderbastelschere war spitz und scharf; sie war geeignet, lebensbeendende Maßnahmen herbeizuführen." Auch ein anschließend angewandter Würgegriff habe die Qualität gehabt, das Opfer extrem zu gefährden. Unbehandelt oder einer nur ambulanten Therapie überlassen, stelle der nach Schilderung eines behandelnden Arztes aus dem Straubinger Bezirkskrankenhaus immer noch zu plötzlichen Gewaltausbrüchen neigende Mann eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Der Afghane nahm das Urteil nach kurzer Rücksprache mit seinem Verteidiger an.

Bernd Heimerl