Nur nicht den Verstand verlieren

"Einsamkeitsbekenntnisse": Ein Corona-taugliches Theaterformat zum Weiterdenken

26.06.2020 | Stand 23.09.2023, 12:35 Uhr
"Von allen Seiten kriecht die Angst auf mich zu": Judith Nebel zitiert aus "Die Wand". −Foto: Herbert.

Ingolstadt - Was ist das nur für ein merkwürdiger Zug, der sich durch die Ingolstädter Fußgängerzone windet?

Eine Art Thespiskarren auf Gummirädern. "Bleibt gesund! " steht darauf. "Bleibt sozial! " und "Haltet Abstand! " Im Plexiglaskasten steht eine junge Frau. Sie spricht. Sie schreit. Sie verrenkt sich. Sie rennt gegen die Wand. Ist das eine Bühne? Oder ein Pranger? Etwas von beidem, könnte man meinen. "Einsamkeitsbekenntnisse" heißt das Projekt von Linda Ghandour, Schauspielerin am Jungen Theater, die sich nicht nur das Konzept ausgedacht hat, sondern den Karren auch zieht. "Corona" steht auf ihrem schwarzen T-Shirt.

"Während des Lockdowns machten alle digitales Theater. Aber für mich hat Theater ganz viel mit Analogität zu tun", erklärt Linda Ghandour. "Ich wollte ein Corona-taugliches Stück machen, das man auch während solcher Zeiten durch die Stadt tragen kann. Damit die Menschen sehen: Das Theater ist präsent. Gleichzeitig sollen sich die Leute auch nicht so richtig entziehen können. Wie sie sich auch Corona nicht entziehen können. "

In dem Kasten steckt ihre Schauspiel-Kollegin Judith Nebel in schwarzem Top und roter Leggins. Sie hat einen Kreidestift in der Hand und während sie damit auf die Scheibe schreibt, beginnt sie zu sprechen: "Heute, am 25. Juni, beginne ich mit meinem Bericht. Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben; es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte. " Es ist ein Auszug aus dem Roman der Schriftstellerin Marlen Haushofer aus dem Jahr 1963. Darin beschreibt diese das Leben einer Frau, die durch eine plötzlich auftauchende, unsichtbare Wand von der Zivilisation abgeschnitten wird.

Später wird sie Schnipsel aus Kat Kaufmanns Buch "SUPERPOSITION" zitieren, wird sie den Passanten in der Fußgängerzone entgegenspucken. Wie das auch die Jazzpianistin Izy Lewin aus dem Roman tut, die durch Tag und Nacht, Traum und Wirklichkeit taumelt. Die Reaktion? Verblüffung, Neugierde, Kopfschütteln. Viele bleiben stehen, zücken Handys, dokumentieren diesen seltsamen Treck, der vom Theatervorplatz zum Paradeplatz und von dort über die Ludwigstraße zum Rathausplatz führt. Einige schließen sich an, marschieren mit durch die Nachmittagshitze.

"Der Glaskasten war mir wichtig, weil er zum einen die Einengung zeigt, die wir durchlebt haben, zum anderen wirkt er wie ein Schaufenster", erklärt Linda Ghandour. "Was passiert denn in den Räumen, in die wir nicht schauen können? " So lässt sie eine (fiktive) Mutter zu Wort kommen, die ihr Kind ohrfeigt und sich unter Rechtfertigungszwang sieht: die Enge zuhause, Homeschooling, Kontaktsperre, der Druck. "Dieser Muttermonolog war uns extrem wichtig. Weil die häusliche Gewalt in der Zeit des Lockdowns extrem angestiegen ist", sagt Ghandour. Es sind existenzielle Fragen, die hier verhandelt werden. Und es ist ein interessantes Format, weil es das Publikum zwingt, sich dazu zu verhalten: hinschauen, wegschauen, mitgehen, nachdenken? Aber weil Linda Ghandour die Leute "mit einem kleinen Lächeln rausschicken" will, hat sie an den Schluss den "Idioten-Cocktail" gesetzt: ein Medley aus O-Tönen von Donald Trump bis Vanessa Hudgens, Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern aller Art - herrlich in Szene gesetzt von Judith Nebel. Großer Applaus!

DK


"Spaziergang trotz und mit Corona" noch mal am 1. und 11. Juli, Beginn ist um 17 Uhr am Ingolstädter Theatervorplatz, Dauer: 45 Minuten. Der Eintritt ist frei.

Anja Witzke