Ingolstadt
Notdienst statt Silvesterparty

Wie die Mitarbeiter des Ingolstädter Klinikums den Jahreswechsel erlebt haben

01.01.2013 | Stand 03.12.2020, 0:39 Uhr

Schmerzhafte Folge des Feuerwerks: Für diesen Patienten endet die Knallerei im Klinikum, wo Schwester Christa seine verletzte Hand verbindet - Foto: Brandl

Ingolstadt (DK) Für die Frau kommt jede Hilfe zu spät. Es ist kurz nach 22 Uhr und noch relativ ruhig, zwei Stunden vor dem Jahreswechsel. Dennoch hat die letzte Nacht des Jahres bereits ein Todesopfer gefordert. Ein Wohnungsbrand führte zu dem tragischen Ereignis. „Jetzt warten wir auf die Kripo“, sagt Schwester Christa, die seit 1999 im Klinikum arbeitet, und schiebt die Tür zum Schockraum wieder zu.

Zusammen mit drei weiteren examinierten Pflegekräften und den diensthabenden Ärzten verbringt sie die Neujahrsnacht in der Notaufnahme. „Silvester kann es ruhig sein“, sagt sie. Ruhiger als in einer Julinacht. „Man kann sich nie auf eine Nacht vorbereiten.“ Ihr Gesichtsausdruck verrät dabei viel Routine. Nur manchmal, das gibt sie im Laufe der Nacht unumwunden zu, da könne selbst sie den Anblick der vielen alkoholisierten und unter Drogen stehenden Patienten nur noch schwer ertragen. Als ob sie genau wüsste, was auch in den folgenden Stunden wieder auf sie zukommt.

Die Notaufnahme besteht aus zwei Haupttrakten: Der rote Gang mit vier Behandlungsräumen und der grüne mit sieben. „In den roten kommen die Leute liegend.“ Über einigen der Türen brennen vereinzelt gelbe, grüne und blaue Signallichter. Sie zeigen an, wer sich beim Patienten aufhält. „Es kommt oft vor, dass alle Räume belegt sind. Dann muss man entscheiden, welche Patienten zuerst behandelt werden.“ Bis zu 40 Notfälle gleichzeitig können im Extremfall auflaufen. „Momentan sind es zehn“, stellt Christa nach einem Blick auf den Kontrollmonitor fest. „Normal sind 20 bis 30.“ Man schaue schon auf die Uhr, sagt die alleinstehende Schichtleiterin auf die Frage, ob man in einer solchen Nacht überhaupt an Silvester denke. „Wenn es zeitlich geht, kann man sich auch mal hinsetzen, etwas essen oder gemeinsam anstoßen.“ Dafür sind im Kühlschrank Orangensaft und alkoholfreier Sekt bereitgestellt. Im Aufenthaltsraum warten zudem Leckereien auf das Personal. Alle hausgemacht.

„Jeder, der Dienst hat, bringt etwas mit“, heißt es vom Team. Und jeder kann sich bedienen, zwischen Hüftfraktur und geplatzter Oberlippe, Augenverletzung und Ohrentrauma, um sich zu stärken oder um einen kurzen Smalltalk unter Kollegen zu halten. Assistenzärztin Barbara Kuhlmann greift zu den Blätterteigtaschen, solange das Notfalltelefon schweigt. Ein bisschen traurig sei sie schon, wenn andere auf Partys gehen, gibt die junge Medizinerin zu. Und doch scheint niemand wirklich etwas zu vermissen in dieser Nacht. „Man fühlt sich wie in einer Ersatzfamilie“, sagt Schwester Isabella. „Die Nachtdienste verbinden schon sehr, weil man auch mal Zeit hat, sich über Privates zu unterhalten“, ergänzt Leitstellensekretärin Petra Buschsieweke. „Man hat Leidensgenossen.“

Es ist nach 23 Uhr. Die Zahl der Einlieferungen steigt nun deutlich an. Assistenzarzt Stephan Ehler huscht immer wieder über die Gänge, eilt von Raum zu Raum. Als Unfallchirurg hat er mit am meisten zu tun: gebrochenes Hüftgelenk, Hand- und Gesichtsverletzung durch einen detonierten Böller. Schwester Christa unterstützt ihn, füllt Patientenunterlagen mit aus, setzt Häkchen im Computerprogramm. Dazwischen blitzt immer wieder das Blaulicht der Rettungsautos in der Zufahrt zur Notaufnahme auf. Ein renitenter Angehöriger macht seit einiger Zeit in der Wartezone auf sich aufmerksam. Seine Freundin liegt in einem der Schockräume: Zusammenbrauch nach Konsum verschiedener Rauschmittel. Die Wartezeit dauert ihm zu lange, er drängt auf Einlass und droht. Das Personal reagiert souverän, lässt sich auf keine Provokation ein. Nachdem auch Ehler den Mann nicht zur Vernunft bringen kann, muss die Polizei einschreiten.

Zehn Minuten vor Mitternacht wird eine total betrunkene junge Frau eingeliefert. Noch einmal drehen sich alle Räder kurz vor der Stunde Null. So schnell, dass es für die Kollegen, die gerade zu tun haben, schon einen dezenten Zuruf braucht, damit sie den Jahreswechsel zumindest in Gedanken mitbekommen. Im Aufenthaltsraum füllen sich derweil die Plastikbecher mit dem pinkfarbenen Schaumwein ohne Prozentangabe auf dem Etikett. Für einige Minuten kehrt jetzt trotz allem kontrollierte Silvesterstimmung ein.

Kurz vor drei Uhr ist der Jahreswechsel in der Notaufnahme längst Geschichte. Schwester Katja sieht nach der Frau mit der Rauschmittelüberdosierung, die Kollegen betten mit Hilfe der Rettungssanitäter einen gestürzten Patienten auf die Liege um. Ein Drogenpatient mit Psychose gesellt sich hinzu. „Es ist noch überschaubar“, sagt Schwester Christa. Die Strapazen der Nacht haben aber mittlerweile auch in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen.