Neuburg
Niemand wird zum Tyrannen geboren

Stichwort Störenfried: Große Fachtagung zur "Psychischen Gesundheit von Kindern" im Landratsamt

25.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:08 Uhr

Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion: Kreisjugendamtsleiter Konrad Bauer (von rechts), Schulleiter und Inklusionsvorreiter Ottmar Misoph aus Thalmässing, Gertrud Hecht, Bereichsleiterin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Kliniken, Schulamtsleiterin Ilse Stork, Dr. Wilhelm Rotthaus, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Familienberaterin Gaby Plach-Bittl und Kinderpsychiater Dr. Peter Titze. - Foto: Schanz

Neuburg (szs) Täuscht der Eindruck, oder gibt es immer mehr gestörte Kinder? Mit dieser Frage beschäftigten sich gestern rund 150 Schulleiter, Therapeuten, Pädagogen, Jugendsozialarbeiter und andere Fachleute bei einer Tagung, die vom Landratsamt, den Offenen Hilfen und der Stiftung St. Johannes organisiert wurde.

Die Fragestellung war erstaunlich knackig, weniger greifbar waren später freilich die Antworten. Doch die Beschäftigung mit dem Stichwort Störenfried erlaubte einige interessante Blitzlichter in die düsteren Abgründe der Erziehung.

"Kein Kind ist aggressiv, es verhält sich nur so": Für den ersten Impulsvortrag versprachen die Veranstalter mit Dr. Wilhelm Rotthaus einen "Guru" auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und der Arzt nutzte die Zeit, um humorvoll gängige Diagnosen zu "entmystifizieren", wie er es nannte - allen voran: die schier allumgreifende Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung. "ADHS beschreibt nur das auffällige Verhalten, nicht aber die Ursache für das auffällige Verhalten", erklärte der Systemische Familientherapeut. Konkreter bedeutet das: "Wer sagt, ein Kind ist auffällig wegen ADHS, der begeht eine Tautologie. Aber mal ehrlich: Wie oft geschieht das", fragte er rhetorisch. Ein Kind verhaut seinen Klassenkameraden? ADHS. Es macht seine Hausaufgaben nicht? ADHS. Es randaliert im Schulklo? ADHS. Es fällt leicht, Probleme auf vier Buchstaben zu schieben, anstatt nach den Ursachen für das Verhalten zu suchen, die woanders liegen. Die Spurensuche sei schwierig und beginne im sozialen Umfeld. Rotthaus machte aber auch deutlich, dass ein Therapeut nie die ganze Wahrheit herausfinden, sondern nur Erklärungsmodelle anbieten könne - wie ein Astrophysiker. Schulen und Eltern müssten zusammenarbeiten, denn Kinder lernten schnell, beide Seiten gegeneinander auszuspielen. Um die Arbeit an den Schulen ging es später auch in einer Podiumsdiskussion.

Einem Bericht der Staatsregierung zufolge, lag im zweiten Halbjahr 2014 für etwa 470 000 Kinder und Jugendliche im Freistaat die Diagnose einer psychischen Störung vor. Das entspricht etwa einem Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Bayern. Mit diesen Zahlen führte Moderator Thomas Assenbrunner in das Thema ein. Für den Landkreis Neuburg-Schrobenhausen konnte Schulamtsleiterin Ilse Stork rein empirisch keine Steigerung feststellen. Derzeit habe man an den Grundschulen 17 Kinder mit "sonderpädagogischem Förderbedarf", was 0,5 Prozent entspreche, und an den Mittelschulen 19 Kinder, was einem Prozentpunkt entspreche. "Im Vergleich zu 2012 seien die Zahlen relativ stabil geblieben", sagte Stork. "Aber wie ich von den Schulen höre, ist es gefühlt mehr geworden." Noch einen ganzen Tag lang nahmen sich die 150 Tagungsteilnehmer Zeit, an Konzepten für den Umgang mit "Störenfrieden" zu feilen.