Ingolstadt
Next Generation

"Ein Pfund Orangen": Die neue Ausstellung des Ingolstädter Kunstvereins überzeugt mit junger Kunst

30.06.2019 | Stand 23.09.2023, 7:35 Uhr
Karin Derstroff
  −Foto: Woelke

Ingolstadt (DK) Da prangt es, grellorange auf dem grauen Filzboden, ein lässig fallengelassener Stein des Anstoßes: das Suhrkamp-Hartcover "Ein Pfund Orangen".

"Ist das Kunst oder kann das weg? ", scherzt prompt ein Vernissagengast - und natürlich kann es nicht weg. Denn Marieluise Fleißers Erzählband, dessen Titelgeschichte der Ausstellung des Kunstvereins ihr Thema gab, ist tatsächlich Kunst und der Name der Autorin ganz selbstverständlich auf der Liste der Ausstellenden zu finden.

13 sind es insgesamt: Neben zwei posthum teilnehmenden Ingolstädtern (Fleißer sowie der Rechtsanwalt und heimliche Lyriker Herbert Fiedler, der ein grandioses Fleißer-Gedicht beisteuert) Kunstschaffende aus Berlin, Wien, Köln, München; die meisten von ihnen haben die 30 gerade mal so überschritten. Wie auch Kurator Philipp Reitsam, Absolvent der Münchner Akademie, dem diese wundersame Schau zu danken ist.

Oder sollte man sagen "wundersame Vernissage"? Es herrscht nämlich so viel frischer Wind bei der Eröffnung in der Galerie im Stadttheater, dass das so manchem schon als Qualitätsbeweis genügt. Alles ist anders: Keine Laudatio, keine Einführung, keine Namen und Titel an den Exponaten ("Macht man nicht mehr", bescheidet Reitsam lapidar), kein offizieller Stadtvertreter. Dafür reichlich junges Volk, (fast) alle Ausstellenden sind angereist und mit ihnen Sammler und Galeristen. Wann sah man den Kunstverein so jung und so vernetzt? Fleißer, mit ihrem Faible für "Söhne", hätte es gefallen: Ihr Werk von jenseits der Schanz gesehen, mit einem frischen, fremden Blick.

Wobei es diesmal hauptsächlich "Töchter" sind - nur drei Männer sind dabei - , die sich ihrer über 90 Jahre alten Erzählung von der letztendlich tödlichen Beziehung zwischen einem jungen Mädchen und einem älteren Mann widmen. Manche ganz aktuell: Elf Arbeiten sind neu für die Schau entstanden. Darunter ein großformatiges anabstrahiertes Beziehungsbild Maxilimiane Baumgartners, zusammengespannt mit einem Stoffmustern nachempfunden Siebdruck. Oder die hinreißende kleine Papierserie "Ein Pfund Orangen" der Schriftstellerin (! ) Monika Rinck - eine illustrative Skizze aus Text und Bild, die, wie der Titel schon verrät, ganz nah an der Erzählung bleibt.

Nicht alles ist so einfach zu verstehen. Die Wienerin Ariane Müller, in Berlin zuhause, zeigt etwa eine Fotoserie sanft bearbeiteter Männerporträts. Es sind, erfährt man im Gespräch, Fotos von derzeit das Netz überschwemmenden Spams, romantisch gehaltenen Kontaktanfragen, die geradewegs in die Kostenfalle führen. Das Elend emotionaler Bedürftigkeit, auf das hier gesetzt werde, sagt Müller zu ihrer starken Arbeit, sei die Verbindung zu Marieluise Fleißer.

Auch Stefan Fuchs' skulpturalen Fachwerkhausbau mit Kunststoffgliedern und Stoffsockel muss man sich als Versuch, sich Fleißer architektonisch zu nähern, erklären lassen, während man die aktuelle Arbeit der Kölnerin Jasmin Werner - eine riesige Skulptur aus Metallbögen, darin eingespannte Nudelhölzer - zumindest als Notat weiblichen Produktionsablaufs erahnen kann.

Sehr speziell sind solche Bezüge, sehr konzeptionell der Blick auf Fleißers sprachgewaltige Erzählung. Einfacher machen es da Arbeiten aus dem Depot, in dem Bilder stehen, in denen es sowieso um Innerliches geht.

Wie bei der Malerei von Sophie Reinhold. Auf riesigen, mit Marmorsand verspachtelten Leinwänden malt sie sich beige und mit zartesten figurativen Elementen die Seele aus dem Leib zum Thema "Mann und Frau". Die verstörend guten Bilder gab es schon, als die Berlinerin angefragt wurde für die Schau; sie passen bestens ins immer aktuelle Thema.


Und so schlendert der Betrachter zwischen Skulpturen, Malerei, Gedichten, Fotos, immer dazu aufgerufen, die Orangenspur zu finden, atmosphärisch zu erspüren oder frei zu assoziieren. Spannend ist der Blick auf Positionen junger Kunst mit Potenzial auf jeden Fall. Ungeachtet ihres Alters nämlich sind fast alle Ausstellenden längst mit Preisen, Stipendien, Lehraufträgen bestens ausgestattet. Das zeigt sich bei der Netzrecherche, die auch so manches rätselhafte Werk wie die Postkarten "Vai pure" (Du kannst jetzt gehen) als hochkomplexes, hinreißendes Kunstprojekt entschlüsseln.

Galerie im Stadttheater Ingolstadt, bis 1. August, Fr bis So, von 12 bis 18 Uhr. Mit Arbeiten von Maximiliane Baumgartner, Herbert Fiedler, Marieluise Fleißer, Heike-Karin Föll, Stefan Fuchs, Karolin Meunier, Ariane Müller, Sophie Reinhold, Monika Rinck, Daniela Seel, Anne Speier, Jasmin Werner, Alex Wissel.

Karin Derstroff