Eichstätt
"Neugier, Schadenfreude, aber auch Herdentrieb"

Psychologie-Professorin Elisabeth Kals-Rosenbaum erklärt, warum Menschen gaffen und wie man Schaulustigen am besten begegnet

16.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:12 Uhr

Elisabeth Kals-Rosenbaum ist an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Professorin für Sozial- und Organisationspsychologie. - Foto: oh

Prof. Dr. Elisabeth Kals-Rosenbaum, Professorin für Psychologie, spricht im Interview mit dem Donaukurier über das weitverbreitete Phänomen Gaffen.

Frau Kals-Rosenbaum, warum gaffen Menschen?

Elisabeth Kals-Rosenbaum: Das ist immer eine Mischung aus Motiven: Neugier, Faszination, Schadenfreude, aber auch Herdentrieb - man bleibt automatisch stehen und schaut ebenfalls, weil sich dort eine Gruppe gebildet hat. Manche machen das daher aus Unbedachtheit. Ihre Aufmerksamkeit wird geweckt, sie schauen hin. Die Frage ist nur: Wie geht es weiter? Stehenbleiben, um zu helfen, ist ja sogar oftmals notwendig. Erst wenn jemand stehenbleibt, um zu gaffen, wird das zum Problem.

 

Ist jeder Mensch ein potenzieller Gaffer?

Kals-Rosenbaum: Wir sind von Natur aus alle neugierig. Und das ist gut so, weil wir soziale Wesen sind und Interesse aneinander haben. Darauf basiert unser Menschsein. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht.

 

Ab wann ist eine Grenze überschritten? Wenn jemand filmt?

Kals-Rosenbaum: Ganz klar wird bei Bildaufnahmen eine Grenze überschritten. Aber die Grenze ist sogar schon an einer anderen Stelle überschritten, denn oftmals handelt es sich um unterlassene Hilfeleistung. Wenn jemand nur guckt und nicht mal Hilfe anbietet. In der Psychologie gibt es den sogenannten Bystander-Effekt. Er beschreibt ein paradoxes Phänomen: Je größer die Anzahl an Zuschauern, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Zuschauer hilft.

 

Sind sich filmende Gaffer darüber bewusst, was sie tun?

Kals-Rosenbaum: Das ist unterschiedlich. Doch es gibt Mittel und Wege, dies über die Schwelle des Bewusstseins zu heben, etwa indem man darüber aufklärt, indem es Strafverfolgung gibt oder sozialer Druck erzeugt wird, dieses Verhalten zu unterlassen oder auch, indem man über positive Beispiele von Zivilcourage berichtet.

 

Erfreuen sich Gaffer am Leid anderer?

Kals-Rosenbaum: Leider ist dies ein Motiv unter mehreren. Mancher denkt sich: Gott sei Dank ist das mir nicht passiert, sondern jemandem anders. Durch den Abwärtsvergleich geht es demjenigen zumindest kurzfristig besser.

 

Wie fühlen sich die Opfer - besonders wenn Bilder und Filme im Internet landen?

Kals-Rosenbaum: Die Opfer sind in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Und wer als Opfer gefilmt wird, während ihm gleichzeitig nicht geholfen wird, fühlt sich zumeist nicht nur hilflos, sondern auch gedemütigt. Möglicherweise nicht gleich in jenem Moment, weil das Stresslevel so hoch ist, dass man es nicht reflektieren kann - aber im Nachgang ist dies eine große Gefahr, zumal das Internet kaum etwas vergisst. Das kann sogar längerfristige traumatisierende Folgen haben.

 

Wie sollte man Gaffern am besten begegnen?

Kals-Rosenbaum: Wichtig ist, den sozialen Druck zu erhöhen. So ein Verhalten muss geächtet werden. Was da passiert, ist unglaublich und erinnert an das alte Rom. Was dabei helfen kann, ist das Positive zu betonen - denn die große Mehrzahl der Menschen macht das nicht, viele helfen. Ich bin zuversichtlich, dass sich die meisten von so einem Verhalten abgestoßen fühlen.

 

Sollte man Gaffer ansprechen?

Kals-Rosenbaum: Ja. Absolut. Man muss die Leute aus der Gruppe herausnehmen und einzeln ansprechen. So erwachen sie aus dem gefühlten Traum, das Ganze sei ein Film. Man kann zum Beispiel vom Fremdschämen sprechen - je nach Kontext. Wichtig ist, bewusst zu machen, dass Gaffen zur Verrohung der Gesellschaft beitragen kann. Wir stehen hier alle in der Verantwortung, damit das Opfer nicht nochmals geschädigt, sondern ihm geholfen wird. ‹ŒDK

 

Das Gespräch führte Sebastian Oppenheimer.