Neuburg
Neuburgs letzte Tante Emma feiert runden Geburtstag

Eine Institution: Renate Pessenbacher, die rund 70 Jahre lang ihren Laden am Wolfgang-Wilhelm-Platz führte, wird 90

14.08.2020 | Stand 23.09.2023, 13:31 Uhr
Josef Heumann
Glückwunsch zum 90. Geburtstag: Als neunjähriges Waisenkind ist Renate Pessenbacher einst nach Neuburg gekommen; 70 Jahre stand sie dann als Tante Emma hinterm Ladentisch im Eck-Geschäft am Wolfgang-Wilhelm-Platz. −Foto: Heumann

Neuburg - Für die Stöpsel aus dem Studienseminar die Straße gegenüber, die hier manchen Groschen ihres Taschengeldes ließen, war sie Emma.

Liegt auch auf der Hand bei der Frau vom Tante-Emma-Laden. Ach, was heißt hier Frau; sie war die gute Seele, eine Institution, stets freundlich, leutselig, aber durchaus resolut, vor allem, wenn ihr einer dumm kam. Der Laden ist jetzt zu, nach über 90 Jahren. Am Donnerstag feierte Renate Pessenbacher, nicht mehr so fix auf den Beinen, ansonsten top, an allem und jedem in der Stadt interessiert und auf keine Frage der Welt um eine kesse Antwort verlegen, ihren 90. Geburtstag.

So halt wie immer, wie Generationen von Schulkindern sie nur kannten, ihr Laden, das Eckgeschäft, als solches für viele Neuburger noch heute ein Begriff, eine schmerzlich vermisste Nachbarschafts-Einrichtung, Nahversorger und nicht selten tägliche Anlaufstelle, sehr geschätzt auch von vielen Altstadt-Bewohnern. Und Renate Pessenbacher war immer da. Erst die letzten Jahre, die Frau längst im Rentenalter, blieb der Laden samstags und dann auch an Montagen zu, für die vor verschlossener Tür stehenden Pennäler eine echte Herausforderung, die Woche erst mal ohne die schier unverzichtbaren Naschereien starten zu müssen.

Echt Tante Emma konnte man bei Renate Pessenbacher auch für ein Fünferl noch einkaufen, Getränke gab's, die der Schul-Automat nicht kannte, was jetzt freilich nicht heißen soll, dass der Laden nicht ebenso mit frischem Obst und Gemüse stets aufzuwarten hatte. Menschen wie Renate Pessenbacher, Einrichtungen, die mit diesen Menschen wohl unwiederbringlich verloren gehen, machen für Neuburgs Oberbürgermeister Bernhard Gmehling "den besonderen Flair unserer Stadt aus". Für diese Geburtstagscour zum 90. nimmt sich das Stadtoberhaupt extra viel Zeit. Vor 50 Jahren schon führte ihn der Weg immer wieder hierher, als er 1970 ins Seminar kam, im benachbarten Gymnasium dann sein Abitur ablegte. Von einem "Urgestein" will man nicht sprechen, so frisch, gepflegt, selbstbewusst und durchaus ein bisschen eitel auch die Frau heute noch begegnet. Fällt das Treppensteigen ihr auch schwer, von einem schweren Sturz vor gut drei Jahren hat sie sich nie mehr so ganz erholt, hält sie das Hindernis keinesfalls von ihrem regelmäßigen Friseurbesuch ab, Renate Pessenbacher empfängt top-schick, nicht nur an ihrem Geburtstag.

Da ist sowieso volles Haus angesagt, wie es sonst nicht immer ist. Denn mit 85 noch, als der Laden dann zu war, plötzlich umzudenken, fällt nicht so leicht. Ihr Leben lang war es so, dass die Leute zu ihr kamen, jetzt plötzlich hätte sie raus zu den Leuten gesollt. Im Laufe der Zeit hat die Frau, die in einem Film über sie ihren Tagesablauf auch mal mit den Worten "dann muss ich ratschen" schilderte, das Alleinsein gelernt. "Mir wird keine Minute langweilig", sagt sie, was auch Ruth Graf bestätigt, die lange Jahre das Antiquitätengeschäft Tür an Tür mit dem Laden von Renate Pessenbacher führte. Aus der Nachbarschaft ist längst Freundschaft geworden, viele Wochenenden, da der Laden samstags, montags eben zu war, waren die beiden Frauen auf Achse. Zusammen mit einer weiteren Freundin lässt keiner im Trio den anderen heute auch nur einen Tag aus den Augen.

Dabei kannte Renate Pessenbacher einst absolut niemanden in der Stadt. Ihren neuen Pflegevater hatte sie gerade ein paar Stunden zuvor kennengelernt, als sie als Neunjährige nach Neuburg kam. Als Waisenkind war sie in einem Heim in Salzburg aufgewachsen. Als es in der Nazizeit aufgelöst wurde, kümmerten sich die Nonnen kurzerhand um eine neue Unterkunft für ihre Zöglinge, die kleine Renate kam beim Bruder einer der Schwestern unter, bei der Familie Berchtenbreiter, die das Eckgeschäft seit 1927 schon führte und auf dem Platz daneben mit den alten Garagen lange Zeit noch eine Tankstelle unterhielt. Renate Pessenbacher ging in die Amalienschule, machte bei den Englischen Fräulein die Mittlere Reife, wäre so gern Lehrerin geworden. Doch daran war nicht zu denken, man brauchte sie im Geschäft, hatte die Pflegefamilie doch selbst keine Kinder. Und so stand sie ihre annähernd 70 Jahre im Laden, der längst wie aus einer anderen Zeit anmutete, jedem Wandel und selbst einem an Renate Pessenbachers Resolutheit gescheiterten Raubüberfall trotzte. Und hätte die Frau nach dem Sturz nicht ins Krankenhaus gemusst, wer weiß, ob der Laden dann so schnell schon zugesperrt worden wäre. Mancher wäre noch heute froh um ein solches Geschäft.

DK

Josef Heumann