Nachhilfe im Marxismus fruchtet nicht

08.11.2009 | Stand 03.12.2020, 4:31 Uhr

Mit den alten Fotos werden Erinnerungen wach: Andrea und Manfred Thiele haben sich nach dem Mauerfall sofort gen Westen orientiert und sind im Dezember 1990 nach Pfaffenhofen gezogen. - Foto: Ermert

Pfaffenhofen (PK) Lächelnd durchwühlt Andrea Thiele den Stapel alter Bilder, den sie am Wohnzimmertisch ausgebreitet hat. Mit rot gefärbten Wangen schwelgt sie in Erinnerungen. "Wir haben mitten in der Geschichte gelebt – und mein Leben darin war ein großer Kampf", sagt sie.

Um zu verstehen, was die heute 56-Jährige, die seit 19 Jahren in Pfaffenhofen wohnt, erlebt hat, muss der Blick wandern. 45 Jahre zurück, hinein in der Glanzzeit der DDR. Aufgewachsen ist sie im thüringischen Buttstädt, als eines von acht Geschwistern in einer Familie, die nie so linientreu war wie vom Regime gewünscht. "Mein Vater hat immer gesagt, dass ich diesen Staat noch fallen sehe", erinnert sie sich an die Anfänge ihrer Abneigung gegen das System. "Sie haben uns eine Welt vorgespielt, die es gar nicht gab", verachtet sie die DDR-Bonzen bis heute für ihre Lügen und für die Scheinwelt, die den Bürgern durch kommunistische Auswüchse auferlegt wurde.

Andrea war zwölf Jahre alt, als ihre Schwester Anneli ein verbotenes Verhältnis mit einem "Klassenfeind" namens Helmut Grieser aus Köln einging. Er war häufig zu Besuch in der Nachbarschaft, und Anneli wurde schwanger. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Schließlich war ihr Vater bei der Volkspolizei beschäftigt – und wurde von einem Stasispitzel verpfiffen. "Das System hat meinen Vater auf dem Gewissen", steht für die Tochter fest. Er verlor seinen Job, wurde in eine Ziegelei versetzt, musste dort einen Knochenjob verrichten, der ihn krank machte. Als Andrea 27 Jahre alt war, starb ihr Vater. Sie heiratete Manfred Thiele. Gemeinsam bauten sie ein Haus im sächsischen Weißenborn – ein "Tal der Unwissenden", wie sie sagt. Denn während in Thüringen das Westfernsehen zum Alltag gehört hatte, hieß es nun "rot, roter, tiefrot, Sachsen". Es war vorbei mit Westinfos.

Völlige Kontrolle

Andrea Thiele hatte sich zu der Zeit längst vom System losgesagt. Anstatt der SED beizutreten, wie ihr in Weißenborn als Sachbearbeiterin im öffentlichen Dienst ans Herz gelegt wurde, war sie bereits mit 18 Jahren in die CDU eingetreten: "Die Partei stand unter völliger Kontrolle, aber man hatte seine Ruhe vor den Kommunisten." Damit verbaute sie sich aber eine spätere Karriere als stellvertretende Bürgermeisterin.

"Uns ging es nicht schlecht in der DDR" – diesen so häufig strapazierten Satz unterstreicht auch die Geschichte der Familie Thiele. Die Eheleute arbeiteten viel, verdienten aber auch gut. Die Kinder Jacqueline, Martin und Benjamin wurden prima versorgt. Beklagen konnte sich die Familie nicht, obwohl sie das System nicht unterstützte. Gefallen hat sich Andrea Thiele nie etwas lassen. Sie forderte ein, was ihr zustand. In jungen Jahren verweigerte sie – ein Affront – den Gang zur Wahlurne, um eine eigene Wohnung zugewiesen zu bekommen. Ein persönlicher Brief an die Honeckers zeigte dann die erhoffte Wirkung. Wegen ihrer Oppositionshaltung verdonnerte sie der Bürgermeister von Weißenborn sogar zu Nachhilfe in Marxismus-Leninismus.

In der Zeit der Wende funkte ein Piratensender täglich ab 24 Uhr die neuesten Nachrichten aus dem Westen hinein in die DDR. "Wir saßen jede Nacht vor dem Radio und verfolgten die Neuigkeiten." Bei allen Montagsdemonstrationen im nahe gelegenen Freiberg waren die Thieles mit dabei, aus tiefster Überzeugung.

"Für uns war das ganz wichtig. Wir witterten die Hoffnung, waren uns sicher, dass der Staat irgendwann fallen würde", beschreibt die ihre damalige Gemütslage. Einmal sprach Gregor Gysi für die SED in Freiberg. Ihn verachtet die 56-Jährige bis heute, ihr Urteil ist knallhart: "Ein Kommunist aus tiefster Seele – und so einer sitzt heute im Parlament." Als "totales Chaos", ein Land, das "in den letzten Wochen kopflos dahinschlitterte", beschreibt die den Untergang der DDR. Verzweifelte Versuche, das System aufrecht zu erhalten, erlebte die damals 37-Jährige hautnah mit.

Etwa als bekannt wurde, dass ein Eisenbahnzug mit Flüchtlingen aus der Prager Botschaft wenige Tage vor dem Mauerfall durch Freiberg rumpeln sollte. Es gab Festnahmen, Ausreisewillige wurden in der Papierfabrik des Ortes eingesperrt, damit niemand auf den fahrenden Zug aufspringen konnte.

Eine Nacht gefeiert

Später die dilettantische Öffnung der Grenzen. "Wir haben es sofort gewusst, schon seit Tagen in Freiberg auf die nächste Demo gewartet – und dann haben wir eine Nacht lang getrunken und gefeiert", beschreibt sie die erlösenden Stunden voller Freude.

Nur anderthalb Monate vergingen, bis sich die Thieles zum Umzug entschieden. An Heilig Abend 1989 war Andrea Thiele erstmals in Pfaffenhofen unterwegs. Der Umzug war ein Jahr später, im Dezember 1990. Doch gute Erinnerungen sehen anders aus. "Ihr Ossis wollt alles nur umsonst", blaffte ihr eine Verkäuferin entgegen, als sie nach einem etwas günstigeren Paar Schuhe für ihren Sohn fragte. "Das ganze Ossi-Wessi-Gehabe, die schwierige Eingewöhnung, die mangelhafte Akzeptanz im Westen – einfach war das nicht." Es hat lange gedauert, bis es Andrea Thiele zur Festanstellung im Gesundheitsamt brachte. Aber sie zweifelte nie dran, dass ihre Entscheidungen richtig waren. "Nur wenn ich sehe, wie erfolgreich die DDR-Bonzen heute im Westen sind, frage ich mich, ob es richtig war, den geraden und ehrlichen Weg zu gehen", spart sie nicht an Kritik gegenüber dem wiedervereinigten Land.

Bei der ersten freien Kommunalwahl Ende November 1989 wird sie für die CDU direkt in den Weißenborner Gemeinderat gewählt. "Nach dem Umzug nach Bayern wäre es wohl geschickter gewesen, zur CSU überzutreten. Aber auch das habe ich verweigert", ist sie ihrer Linie treu geblieben.

Eine Welt brach für sie zusammen, als sie nach der Wende erfuhr, wer alles für die Stasi tätig war. "Kollegen, Bekannte aus der Umgebung, viele Menschen, mit denen ich fast täglich zu tun hatte." Sie bedauert, die angeforderten Stasi-Unterlagen über sich selbst nie erhalten zu haben. Offensichtlich wurden sie zerstört. Sie wären ein interessantes Zeugnis ihres Lebens gewesen. Von einem Leben, durch das sich Andrea Thiele kämpfen musste, aber das ihr den Humor nicht genommen hat. "Am Ende habe ich den Kampf gewonnen", sagt sie leise, immer noch mit roten Wangen, voller Stolz.