Ingolstadt
Musikalische Grenzerfahrung

Das Georgische Kammerorchester fesselt mit dem "Porträt Grigori Frid"

11.05.2018 | Stand 23.09.2023, 3:12 Uhr
Isabelle van Keulen und Oliver Triendl beim 5. Abokonzert des Georgischen Kammerorchesters im Ingolstädter Festsaal. −Foto: Foto: Schaffer

Ingolstadt (DK) Vorab dürften viele Zuhörer äußerst skeptisch gewesen sein: Ist es einem Konzertpublikum wirklich zumutbar, den ganzen Abend lang einen einzigen, weitgehend unbekannten zeitgenössischen Komponisten zu hören, der serielle und tonale Arbeitsweisen vereint - und dessen Musik obendrein als "düster" oder "dunkel" beschrieben wird.

Diesen gewagten Schritt ging das Georgische Kammerorchester unter seinem Chefdirigenten Ruben Gazarian bei seinem 5. Abokonzert - und widmete das gesamte Programm einem Porträt des vor sechs Jahren gestorbenen Grigori Frid, einem russischen Komponisten jüdischer Herkunft, der sich im Westen allenfalls durch seine Mono-Opern wie "Das Tagebuch der Anne Frank" einen Namen gemacht hat.

So verständlich die Vorbehalte, die Berührungsängste auch sein mögen - allein schon die Idee und der Mut, solche innovativen Wege einzuschlagen, an denen sich selbst große Musikmetropolen bisher noch nicht versucht haben, verdienen Respekt. Initiiert wurde das Gesamtprojekt - zwei Orchesterinventionen, das Doppelkonzert für Viola und Klavier sowie die 3. Sinfonie - von dem Pianisten Oliver Triendl, der als Frid-Experte bereits bei der deutschen Erstaufführung des Doppelkonzerts den Klavierpart übernommen hatte. Nun holte er dafür die phänomenale Bratschistin Isabelle van Keulen ins Boot.

Schon als die ersten Töne ansetzen, verbreitet sich eine ganz unmittelbare, faszinierend-morbide Klangvision im Saal - eine dumpfe, verlorene, trostlose Melodie am Flügel, aus der sich die klagende Stimme der Bratsche herausschält. Solche langsamen Sätze, solche lyrisch gesponnenen Verwebungen sind es vor allem, die die Grande Dame der Viola Isabelle van Keulen hörbar liebt, die sie samtweich in langen Linien, großen Bögen, von den tiefsten Registern bis hin zu den ganz hohen Regionen meisterhaft wie kaum eine andere ausgestaltet. Fesselnd ergänzen sich die Soloinstrumente zu einer gemeinsamen Tonsprache, lassen sie erwachsen, durchdringen, durchbohren, durchtreiben sie im vereinten Wechsel. Verschmelzen zu einem gemeinsamen inneren Konflikt, den sie zusammen mit dem schattierend farbgebenden Orchester atmosphärisch atemberaubend bewältigen.

Das Doppelkonzert offenbart sich als erschütternde musikalische Seelenschau, in der der Komponist tiefe Einblicke in seine geschundene Psyche gewährt: Wurden doch große Teile seiner Familie und Verwandtschaft mit jüdischem Hintergrund unter Stalin ausgelöscht. Ergreifend legt Frid seine damit verbundenen Emotionen in komplexe, verschwimmende Strukturen, in den elegischen, sonoren Gesang der Bratsche. Den greift Oliver Triendl am Klavier einfühlsam auf, verdichtet ihn in den schnelleren Abschnitten perkussiv-virtuos. Nach zunächst leisen, dann immer lauter und unerbittlicher werdenden Tonrepetitionen, Clustern und rasenden Laufkaskaden, die trügerisch die Ruhe vor dem Sturm einläuten, bäumt sich unter einem anschwellenden, ohrenbetäubenden Klangberg alles zum katastrophischen Höhepunkt auf - um im Abgesang der Passacaglia vor Verzweiflung, vor Hoffnungslosigkeit, vor Trauer schier zu zerfließen. Katharsis in ihrer reinsten Form.

Dramaturgisch klug wird dieser gewaltige Kraftakt von den Georgiern mit reinen, äußerst sensibel ausgedeuteten Orchesterwerken umrahmt - ganz nach dem Muster des klassischen Sinfonieprogramms. Als am unbedarftesten, eingängigsten und zugänglichsten erweisen sich die beiden einleitenden Inventionen. Zarte, verhaltene, moll-artige Motive verbinden sich da zu einem gleichzeitig kummer- wie hoffnungsvoll ansteigenden und wieder verebbenden Klangbogen; majestätisch-resolut schwingen sich fugenhafte Themen gegenseitig empor.

Dienten diese offenbar noch der musikalischen Selbstfindung, scheint Frid im Doppelkonzert und nicht zuletzt in seiner 3. Sinfonie bei sich angekommen zu sein, seinen eigenen Stil gefunden zu haben. Aus dem Tondickicht heraus steigert sich das Georgische Kammerorchester unter der exzessiven Leitung von Ruben Gazarian prägnant und intensiv in schmerzhaft leidende bis furiose, vorwärts drängende Aufschreie und Ausbrüche hinein, verwandelt die vorherrschenden Leitmotive im besten Sinne des Wortes in nuancenreiche "Leidmotive".

Mögen die auf manchen Konzertbesucher vielleicht auch verstörend gewirkt haben: Wenn man bereit ist, über die Grenzen seiner eigenen Hörgewohnheiten hinauszugehen, dann wird sich einem diese zwar ungewohnte, aber absolut bereichernde, aufrüttelnde Musiksprache mehr und mehr erschließen, wie der lang anhaltende Applaus bewies.
.

Heike Haberl