Musikalische Dialoge zwischen den Welten: Orgelnacht im Münster und in der Asamkirche

30.07.2006 | Stand 03.12.2020, 7:39 Uhr

Ingolstadt (DK) Zwei Organisten, zwei Orgeln, zwei Kirchen – drei phänomenale Konzerte. Aus Manchester war Wayne Marshall angereist, von Paris kam Vincent Dubois. Zusammen durchwachten und durchspielten sie am Samstag die diesjährige Orgelnacht im Liebfrauenmünster und in der Asamkirche Maria de Victoria in Ingolstadt.

Vom ersten Moment an griff Wayne Marshall im Liebfrauenmünster mit voller Pranke in die Tasten und stemmte die Füße in die Pedale. Er gönnte der Orgel scheinbar keine Verschnaufpause, unentwegt musste sie dem direkten Zugriff dieses unermüdlichen Meisters standhalten. Schon in seiner "Entrada improvisée" zog er alle Register und trieb die Musik bis in die entlegensten Winkel des riesigen Kirchenschiffs. Jede Klangfarbe war mit Bedacht gewählt, alle Zeiten perfekt aufeinander abgestimmt. Mächtige Orgelstücke hatte Marshall ausgewählt für den ersten Teil der Orgelnacht, allen voran die "Orgelsymphonie Nr. 6 op. 42/2" von Charles Marie Widor und das Finale der "Orgelsymphonie Nr. 6 op. 59" von Louis Vierne. Mit seiner Eigenkomposition "Berceuse pour une femme" zeigte sich Marshall von einer – sieht man auf seine Gesamtpräsentation – überraschend ruhigen Seite, mit eingängiger, jazzverliebter Melodik.

Einen deutlichen Kontrast bildete aber in jedem Fall der Einsatz von Vincent Dubois in der Asamkirche Maria de Victoria. Die ganz neu restaurierte Orgel ist nach einer von Johann Sebastian Bach vorgeschlagenen Temperatur gestimmt. Deshalb stellte Dubois zugleich sich und die Orgel mit Bachs "Präludium und Fuge D-Dur BWV 532" vor. Dabei und in der anschließenden Improvisation offenbarte sich unverwechselbar, dass Dubois zwar genauso wie Marshall mit allen, aber dennoch mit ganz anderen Wassern gewaschen ist: Dubois’ Haltung gegenüber der Musik ist von einer Affinität zu zwingend wirkenden musikalischen Entwicklungen gekennzeichnet (wie sie archetypisch in Bachs Musik verwirklicht sind). Er spielt mit großem Gespür für das Eigenleben, welches die Töne in ihrem klingenden Zusammenhang führen. Er tritt mit großem Respekt vor der Eigendynamik des musikalischen Textes an die Musik heran Sein Spiel ist dabei wie ein Dialog zwischen sich und einer anderen Welt. Marshalls Musik dagegen wirkt in ihrer überwältigenden Präsenz völlig diesseitig.

Der Unterschied zwischen den beiden Organisten hat den Hintergrund verschiedener Traditionen. Dies wurde noch einmal deutlicher bei der Improvisation von Marshall an der Orgel der Asamkirche. Dort trieb er das Spiel mit jazzigen Elementen auf die Spitze. Plötzlich hatte sein Spiel einen walking bass, dann kamen Ragtime-Rhythmen dazu und zudem humorvolle Andeutungen von musikalischer Groteske und eine Walzerparodie: Marshall hat eine schier unerschöpfliche musikalische Fantasie , jedes Motiv verkörpert einen neuen Einfall. Er liebt das Fragmentarische, wirkt oft ungestüm, scheut sich nicht, sich an die Grenzen der Zerrissenheit zu spielen – und scheint ein niemals ermüdendes Kraftpotenzial zu haben. Ein Stürmer und Dränger mit einem unbeugsamen Eigenwillen an der Orgel. Mozart von Marshall wäre nicht denkbar. Aber von Dubois, der im Anschluss dann wieder im Münster mit Mozarts "Fantasie f-Moll KV 608" den dritten Teil der Orgelnacht eröffnete. Den Rest des Programms gestaltete er mit einigen der größten französischen Orgelkomponisten (César Franck, Maurice Duruflé, Louis Vierne, Marcel Dupré). Dubois entstammt dieser Orgeltradition. Hier ist man viel zurückhaltender, was die Klangfülle angeht, erforscht vielmehr zunächst die leisen Töne eines kristallinen, oft mystisch verschwebenden Orgelklangs. Weite Linien von gläserner Helligkeit schaukeln sich nur über lange Strecken langsam zu einer immer größeren Masse auf, um dann oft wieder in eine scheinbare, kosmisch wirkende Ferne zu versinken. Wie in die Stille der Nacht.

?Sebastian Ullrich