Pfaffenhofen
Motorsport in den eigenen vier Wänden

Der Pfaffenhofener Matthias Kraus zählt zu den besten deutschen SiM-Racern - Geld lässt sich damit aber (noch) nicht verdienen

17.11.2020 | Stand 23.09.2023, 15:30 Uhr
  −Foto: Missy (2), Kraus

Pfaffenhofen - Matthias Kraus ist leistungsorientierter SiM-Racer, betreibt also virtuelle Rennsimulationen.

 

Und das überaus erfolgreich und intensiv. Der Werdegang des Pfaffenhofeners zeigt, dass beim eSport nicht mehr die Frage ist, ob es sich überhaupt um Sport handelt, sondern eher wie schnell professionelle Strukturen in der Breite ankommen.

Wer in der Wohnung von Kraus Klischees finden will, muss nicht suchen, er wird von ihnen förmlich erschlagen. Im Wohnzimmer steht eine Vitrine mit Devotionalien von Chase Elliott, einem US-amerikanischen Rennfahrer, vor dem Fernseher steht der Sitz eines Rennwagens mit Lenkrad und Gaspedal. Matthias Kraus, 26, besitzt auch Rennfahrerschuhe und spezielle Handschuhe. Aha, ein Computerspiel-Nerd, könnte man denken, wenn man der Meinung ist, dass Sport sich über Schweiß und dreckige Turnhosen definiert. "Nach einem Drei-Stunden-Rennen kann ich mich komplett umziehen, weil ich alles vollgeschwitzt habe", sagt Kraus und widerlegt lachend diese Hypothese.

Im Grunde ist die Frage, ob eSport überhaupt ein Sport ist, ziemlich auserzählt. Viel spannender ist, inwieweit virtuelle Simulationen auch in der Breite professionalisiert sind. Der 26-jährige Kraus, der bei der Regierung von Oberbayern angestellt ist, ist ein ziemlich gutes Beispiel für die Vermutung: wahrscheinlich ziemlich bald.

Zunächst einmal eine Erklärung: SiM-Racing (Kurzform für simulated racing, Deutsch: simulierte Rennen) ist die möglichst genaue Übersetzung des realen Motorsports in die virtuelle Welt. SiM-Racer sitzen vor einem Bildschirm und hinter einem Lenkrad und fahren auf identischen Rennstrecken identische Autos realer Motorsportserien. Das Lenkrad vibriert, der Motorensound kommt über das Headset, auch der Blick aus der Frontscheibe ist der gleiche. Nur der Geruch von Motoröl fehlt. Es springen also keine animierten Monster aus einer Ecke, und wenn man in den Abgrund fällt, wird man auch nicht von einem Geist wieder hochgezogen und darf weiterfahren. Wer beim SiM-Racing mit Motorschaden im Kiesbett landet, für den ist das Rennen vorbei.

 

Die Karriere des Rennfahrers Kraus begann im realen Motorsport. Als Sohn eines Mechanikers, der in der Formel 1 für BMW und in der DTM für Audi arbeitete, wurde ihm die Begeisterung für schnelle Autos in die Wiege gelegt. Mit sieben Jahren startete Kraus im Kartsport, fuhr anfangs Slalom, später Rennen auf der Rundstrecke. Außerdem nahm er an Rennen in Rallye-Autos teil. "Mit 16 Jahren hatte ich die Chance, in einer ADAC Nachwuchsserie zu starten", erzählt Kraus. "Aber da braucht man für eine Saison 300000 Euro. " Es scheiterte bei der Sponsorensuche.

Mit Anfang 20 zockte Kraus auf der Spielekonsole Motorsportspiele. Forza Motorsport auf der Xbox, schon eher Daddeln zum Zeitvertreib als gleichwertiger Ersatz für den realen Motorsport. Doch dann entdeckte der Pfaffenhofener iRacing. Das ist eine der drei führenden Simulationen, die nahezu alle Motorsportserien ins Virtuelle übersetzen (die andere beiden sind Raceroom und rfactor 2). Egal, ob Formel 1, DTM oder Formel E: Wer hier Rennen fährt, steuert die gleichen Autos auf den gleichen Strecken - und hat die gleichen Herausforderungen: Bremsenverschleiß, Tankfüllung, Bremspunkte, Boxenstopp, Reifenwechsel, Safety-Car-Phasen. Der Deutsche Motorsport Bund (DMSB) hat SiM-Racing offiziell als Sport anerkannt.

Kraus tritt in diesem Kosmos in den US-amerikanischen Nascar- und Indycar-Serien an. "Seit ich mein erstes Nascar-Rennen gesehen habe, war ich von dem Sport fasziniert", sagt Kraus. "Die fahren noch mit richtigen oldschool V8-Motoren. Da wird Rad-an-Rad gekämpft. " Passenderweise beschreibt Kraus seinen Fahrstil als hart, ohne Angst vor Gegnerkontakt. Anfang 2019 wollte er seine eSport-Leidenschaft intensivieren und suchte nach einem Team, im Februar 2020 wechselte er zu Albrecht Motorsport. Heute fährt Kraus in der höchsten Nascar-Liga.

Kraus ist damit einer der besten deutschen SiM-Racer im Bereich Nascar und Indycar. Es gibt hier professionelle Fahrer, große Motorsport- und Autokonzerne stellen Mannschaften, zweimal die Woche finden Rennen statt, in denen Punkte vergeben werden. Um überhaupt in der höchsten Division starten zu dürfen, muss man Lizenzen erwerben, in denen die Fahrtauglichkeit getestet wird. Neben mehreren hundert Euro für Hard- und Software muss man also viel Zeit investieren. "Ich trainiere täglich zwei bis drei Stunden", sagt Kraus, der für sein Team zusätzlich neue Fahrer scoutet, Rennberichte schreibt, Videos mit Streckenvorstellungen anfertigt und die Social-Media-Kanäle betreut. Im Jahr kommt der 26-Jährige auf etwa 200 Rennen.

 

"Anfangs war das ein Hobby", sagt Kraus, wenn er über seine große Leidenschaft spricht. Die große Frage ist: Was ist es dann heute? Der Zeiteinsatz spricht für Profisport, der finanzielle Rücklauf für Amateursport. Geld bekommt Kraus nämlich nicht, weder vom Team noch über Preisgelder. Der 26-Jährige hat schon einige Rennen oder Einzelzeitfahren auf höchstem Niveau gewonnen, startet mit seinem Team bei den auch im iRacing renommierten 24-Stunden-Rennen von Daytona, Le Mans, am Nürburgring und in Spa und verbringt dann nahezu das gesamte Wochenende am Lenkrad. "Ich könnte den ganzen Tag fahren, wenn ich damit hauptberuflich Geld verdienen würde", sagt Kraus. "Die Profis fahren täglich sieben, acht Stunden. Das, was ich an Zeit für Rennen und Training reinstecke, spielt sich im semiprofessionellen Bereich ab. "

Derzeit lebt er an der Grenze zwischen Hobby und Profitum. Aber Kraus will mehr. Die Gesamtwertungen von Serien gewinnen etwa. Im weltweiten Ranking beendete Kraus die letzte Saison auf Position 20 und war der zweitbeste Deutsche. Aber der Erfolg darf sich irgendwann auch auszahlen. "Wenn ich nebenbei ein bisschen Geld verdienen würde, würde ich nicht nein sagen", erzählt Kraus. Wenn man sich die Wachstumsraten von iRacing anschaut, scheint es wohl nur eine Frage der Zeit zu sein. 40 Rennserien werden in der Simulation abgebildet, monatlich nutzen laut Unternehmensangaben 60000 Fahrer iRacing, der jährliche Traffic-Zuwachs beim Online-Gaming beträgt 40 Prozent. Rennsimulationen haben von der Corona-Krise profitiert, es ist Geld im System.

Das sind die Fakten. Man kann aber auch der Expertise des Vaters von Kraus vertrauen, der seinen Unterhalt im realen Motorsport verdient. "Der sagt, SiM-Race ist die Zukunft, weil immer mehr Unternehmen dort hingehen", sagt der 26- Jährige. Als Kraus seine SiM-Racing-Karriere startete, witzelten seine Eltern noch ab und zu, ob er wieder Computer spiele. Jetzt verfolgen sie die Rennen des Sohnes per Livestream.

PK

 

Christian Missy