Neuburg
Mord und Moralappelle in der Anstalt

Oberstufentheater gefällt beim Regiedebüt von Tobias Jordan mit Dürrenmatts "Die Physiker"

21.06.2013 | Stand 03.12.2020, 0:00 Uhr

In der Anstalt: Lisa Zell (linkes Bild) glänzte in der Rolle der Irrenärztin, die zwar behauptet, »die einzige Nicht-Verrückte« ihrer Familie zu sein, den Grat aber längst selbst überschritten hat. Die Physiker Newton, Möbius und Einstein, (rechtes Bild, von links) Hannah Direktor, Kilian Vief und Shadan Hussain werden sogar während der Mahlzeiten bewacht, hier von Oberpfleger Uwe Sievers (Kilian Baierl) - Fotos: Hammerl

Neuburg (DK) Mit Bravour gemeistert hat das Oberstufentheater des Descartes-Gymnasiums seine doppelte Premiere. Nämlich die des aktuellen Stücks „Die Physiker“, die zugleich eine Premiere für das komplett neu aufgebaute Team unter erstmaliger Leitung von Deutschlehrer Tobias Jordan gewesen ist.

„Was einmal gedacht wurde, kann man nicht mehr zurücknehmen“ – die Erkenntnis steht für Johann Wilhelm Möbius (souverän in der Rolle des ehrenhaften Wissenschaftlers: Kilian Vief) am Ende der rund zweistündigen Komödie von Friedrich Dürrenmatt. Alles umsonst, die Trennung von der Familie, die er im Stich ließ, der Mord an seiner Krankenschwester, die durchschaute, dass er keineswegs verrückt ist, und die Vernichtung seiner Unterlagen aus 15 Jahren Forschungsarbeit, der Weltformel, die die Menschheit vernichten könnte.

Drei Morde erschüttern die Irrenanstalt des Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd (herrlich exaltiert und wandlungsfähig: Lisa Zell), die gemeinsam mit Oberschwester Marta Boll (in ihrer Dominanz für einige Lacher gut: Bianca Speth) dem Kriminalinspektor Richard Voß (überzeugende Mimik: Paul Breitner) klarmacht, dass es sich um „Unglücksfälle“, keine Morde und allenfalls um Täter, aber keine Mörder handle. In der Anstalt „macht die Gerechtigkeit Ferien“, erkennt Voß – und genießt es.

Immer für trockene Randbemerkungen gut ist Hannah Direktor in der Rolle der Geheimagentin Beutler, die sich als Physiker Isaac Newton ausgibt; köstlich weltfremd gibt sich Shadan Hussain als ihr Pendant eines östlichen Geheimdienstes. Auch wenn die Zeit des Kalten Krieges, in der Dürrenmatt sein erfolgreiches Bühnenwerk schrieb, lange vorbei ist, überraschen „Die Physiker“ mit ungeahnter Aktualität. Wie viel Verantwortung hat ein Wissenschaftler für das, was er erfindet? Darf er sie abschieben auf eine Partei oder die Gesellschaft, wie es die beiden Geheimagenten tun? Wie viel muss eine Familie mitleiden? Möbius Ex-Frau, Frau Missionar Lina Rose (Judith Titze), scheint allerdings bei ihrem neuen Mann, dem Missionar Oskar Rose (Jakob Utz), vom Regen in die Traufe gekommen zu sein – hier ist der Zuschauer gefordert, sich über sein Frauenbild klar zu werden.

Das Ganze spielt in einem Irrenhaus mit lauter roten Möbeln, in das die Zuschauer in gewisser Weise durch die Eingangsszene eingebunden werden, als Irrenärztin von Zahnd schnuppernd und irre lachend durchs Parkett läuft – ein Regiekniff, der von Anfang an gespannte Aufmerksamkeit erzeugt. Laura Habermeier als verliebte Krankenschwester Monika Stettler, Kilian Baierl, Jakob Utz und Lorenz Hoffmann als Pfleger, David Hermann als Polizist mit urkomischem, schwyzerdütschem Dialekt und Lena Biebel als Gerichtsmediziner tragen ihren Teil bei, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und an Gewissen, Moral und Verantwortungsgefühl zu appellieren. Da ist das überwiegend jugendliche Publikum voll konzentriert dabei, zumal der Humor keineswegs zu kurz kommt.

So macht Theater Freude, spritzig, meist stringent, von wenigen Längen im ersten Akt mal abgesehen. Regisseur Jordan ist ein ansprechender Einstieg gelungen, sein Mut, das Oberstufentheater trotz großer Fußstapfen seines Vorgängers Gundolf Hunner zu übernehmen, ist ihm von den engagierten Akteuren gedankt worden. Dass ein Regisseur den anhaltenden Applaus stoppt, dürfte selten vorkommen, doch Jordan „wollte schon immer mal ein ganzes Theater dirigieren“. Und so endet die Premiere mit einem vielstimmigen Geburtstagsständchen für Lisa Zell.