Berlin
Merkels Euphorie, Gabriels Angriff

Die letzte Bundestagssitzung vor der Wahl wird zum lange erwarteten Schlagabtausch

05.09.2017 | Stand 02.12.2020, 17:32 Uhr

Berlin (DK) Plötzlich ist es ruhig im Plenum, lauschen alle den Worten von Norbert Lammert. "Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie", stimmt der Bundestagspräsident in seiner letzten Rede das Hohelied auf den Parlamentarismus an. Abschied von einem, der über die Parteigrenzen hinweg geschätzt und geachtet wird. Nach 37 Jahren im Bundestag und zwölf Jahren als dessen Präsident an der Spitze tritt er ab. Eindringlich mahnt Lammert zum demokratischen Konsens.

Mit dem ist es dann in der anschließenden Debatte vorbei. Knapp drei Wochen vor der Bundestagswahl ist das Parlament zu seiner letzten Sitzung zusammengekommen - und das Plenum gerät zur Wahlkampfarena, unter der Reichstagskuppel wird heftig gestritten und ausgeteilt. Drei Stunden tobt ein offener Schlagabtausch. Regierung gegen Opposition, Schwarz gegen Rot, Grüne gegen Linke, jeder gegen jeden. Letzte Gelegenheit für krachende Rundumschläge.

Kanzlerin Angela Merkel zieht am Ende eine rundum positive Bilanz der vergangenen Jahre, lobt sich und ihre Regierung. Die große Koalition habe "'ne Menge erreicht". Doch dürfe man sich darauf nicht ausruhen. Deutschland stehe "an der Schwelle einer neuen Entwicklungsetappe", verweist die CDU-Chefin auf die Herausforderungen im Zuge des digitalen Wandels. "Wir wollen nicht im Technikmuseum enden", warnt Merkel. Der Automobilindustrie bescheinigt sie in der Diesel-Affäre "unverzeihliche Fehler", bekennt sich aber zum Verbrennungsmotor.

Dem Land gehe es gut, die Regierung habe gute Arbeit geleistet, Millionen Menschen hätten heute mehr in der Tasche, lautet ihre Botschaft. Das habe sie aber vor allem der SPD zu verdanken, ruft SPD-Generalsekretär Hubertus Heil dazwischen. Da wird die Kanzlerin deutlich: "Gegen meinen Willen und den Willen der Union konnten Sie in diesem Parlament echt nichts durchsetzen", giftet die CDU-Chefin.

Vizekanzler Sigmar Gabriel kontert: Seine Partei habe ihr helfen müssen gegen CSU-Chef Horst Seehofer und Finanzminister Wolfgang Schäuble, "dass Sie einen Willen haben durften", stichelt der Außenminister und frühere SPD-Chef. "Wir haben gut auf Sie aufgepasst", sagt er - und die Lacher der eigenen Parteifreunde im Plenum und auf der Regierungsbank sind ihm gewiss.

Doch der Vizekanzler kämpft mit angezogener Handbremse, attackiert nur mit Samthandschuhen, schont die Kanzlerin, dankt ihr und dem Koalitionspartner für die gute Zusammenarbeit und lobt die gemeinsame Bilanz von Schwarz-Rot - so, als wolle er sich für die Zeit nach der Wahl empfehlen. Statt Merkel hart anzugreifen, und seinem Kanzlerkandidaten Martin Schulz Schützenhilfe zu leisten, der mangels Amt und Mandat fehlt, zieht Gabriel eine gemischte Bilanz. Er nimmt sich statt Merkel lieber Finanzstaatssekretär Jens Spahn und CSU-Rückkehrer Karl-Theodor zu Guttenberg vor.

Spahn wolle Sozialleistungen kürzen, um Rüstungsausgaben zu erhöhen, zu Guttenberg habe in seiner Zeit als Minister die Bundeswehr ruiniert und kaputtgespart. "Ich bin zwar für Resozialisierung, aber der ist mit der Bundeswehr so sorgsam umgegangen wie mit seiner Doktorarbeit", spottet Gabriel und erinnert an die Plagiatsaffäre des CSU-Politikers, die ihn schließlich das Ministeramt gekostet hatte. Gabriel auf den Spuren Willy Brandts, wirbt für eine "neue Abrüstungs- und Ostpolitik", fordert mehr Bildungs- und weniger Rüstungsausgaben und warnt vor einer "Rückkehr in die dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges".

Nicht nur Gabriel, auch SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann war es, der im Stile eines Oppositionsführers mit Merkel abrechnete. "Viele Pläne sind an ihrem Widerstand gescheitert", klagte er. Ob Mietpreisbremse oder Mindestlohn - die SPD habe in der Koalition viel erkämpfen müssen. Auch Linke und Grüne werfen der Kanzlerin und ihrer Regierung Scheitern und Versagen vor. Für Merkels "anlasslose Euphorie" bestehe kein Grund. Mit ihrem "Schönwetter-Wohlfühlwahlkampf" wolle sie die Menschen einlullen, kritisiert Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Grünen-Spitzenkandidat Cem Özdemir vermisst einen härteren Kurs gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Am Ende ihrer Rede sorgt Merkel unfreiwillig für Heiterkeit bei SPD und Opposition. Ihre Zeit sei "so gut wie vorbei", so die Kanzlerin. "Ja, meine Redezeit hier", stellt sie eilig klar, reagiert mit Kopfschütteln: "Mein Gott, wie weit sind wir jetzt eigentlich schon gekommen." ‹ŒKommentar Seite 2